© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Erschöpfung am Hindukusch
Universalismuskrise: Mit dem Rückzug der internationalen Truppen scheitert in Afghanistan mehr als nur ein militärisches Konzept
Konstantin Fechter

Afghanistan. Wie läßt sich die politische Anatomie in diesem von kargem Bergland und endlosen Sandmeeren geprägten Landstrich, in dem sich heiße Sommer an noch viel kältere Winter reihen, veranschaulichen? Womöglich nützt an dieser Stelle weder ein Blick auf die uralten Fehden von Paschtunen, Tadschiken, Hazara und Usbeken noch ein Exkurs über die Geschichte fremder Eroberungszüge von Alexander dem Großen bis Breschnew, dem weniger Großen. Vielleicht aber läßt sich der Charakter dieser kriegsgebeutelten Region an der Beziehung zweier Männer festmachen: Isaak Levi und Zebulon Simentov, der beiden letzten Juden im Herzen Asiens. Alle anderen ihrer Religionsgemeinschaft waren längst ausgewandert, die meisten nach Israel oder in die Vereinigten Staaten, irgendwohin, wo es eine Zukunft für den jüdischen Glauben gibt. Nur der Weissager Levi und der Teppichhändler Simentov waren geblieben und teilten sich um die Jahrtausendwende die verfallene Synagoge von Kabul als Wohnstätte. 

Der erste Irrtum über Afghanistan ist, an dieser Stelle nun zwei in sich gekehrte Menschen zu erwarten, die, versunken in Gebet und nostalgische Würde, das Sterben ihrer jahrhundertealten Kultur begleiteten. Denn nicht die Solidarität des Untergangs verband sie, sondern eine herzliche Feindschaft. Simentov sah in den von Levi gebrauten Liebestränken einen Verrat an den Grundsätzen der Bibel, Levi in dem Neuankömmling hingegen einen Querulanten, der ihn aus seiner Heimat drängen wollte. Um einander zu schaden, zeigten sie sich gegenseitig bei den Taliban an. Frei erfundene Anschuldigungen wie das Betreiben eines Bordells und Spionage für das Ausland brachten die Verfehdeten gleichzeitig in Haft.

Parallel zu ihrer Folterung in den Kellern der Islamisten fand die Plünderung der Synagoge statt. Ihr kostbarster Besitz, eine rund 400 Jahre alte handgeschriebene Torarolle, ist seitdem verschollen. Das Verhältnis der letzten afghanischen Juden ist so faszinierend wie absurd, so unangebracht wie menschlich. Vor allem aber spiegelt sich in ihm die Seele Afghanistans wider, wo selbst eine Gemeinschaft, die aus nur zwei Männern besteht, weder Ruhe finden noch Kohäsion ausprägen kann.

In diesem Land also beschloß ein Militärbündnis aus westlichen Nationen, eine Befriedungsmission zu starten. Diese noble Absicht war aus der reinen Not geboren, denn am Anfang des Feldzugs gegen den Terror stand das amerikanische Verlangen nach Rache an den Tätern der Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und jedem, der den Mördern einmal Zuflucht gewährt hatte. Als sich der Staub der ersten Luftschläge lichtete, war man an den Konferenztischen der Fortschrittsgläubigen darüber verlegen, daß dieses archaische Bedürfnis nach Blut und Vergeltung noch immer in ihnen lauerte. Auge um Auge, das konnte kein legitimes Prinzip im taufrischen 21. Jahrhundert mehr sein. 

Die eben zelebrierte Zerstörungsorgie mußte umgedeutet werden in einen kreativen Schöpfungsakt, an dessen Ende nicht das Chaos zerfallener Staaten, sondern ein gezähmter Naher Osten stehen durfte. An vorderster Front der Weltverbesserung reihte sich beflissen das sozialdemokratisch-ökologisch geführte Deutschland ein. Es galt, den Steinzeit-Islam in die Postmoderne zu zerren, kleinen Mädchen das Lesen beizubringen und Verständnis für die Segnungen der regenerativen Energiegewinnung zu erzeugen. All die Dinge, welche eine Republik, die weder mit der internationalen Realität noch mit dem Krieg als solchem mehr etwas anfangen konnte, als neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ihre scheinbar nutzlos gewordenen Soldaten erachtete. Das Konzept des schwerbewaffneten Entwicklungshelfers – im Zuge der Operation Enduring Freedom sollte es sich endlich bewähren, die Demokratisierung Afghanistans nur der erste Schritt eines ganz großen Wurfes in Sachen Friedenserzwingung sein. 

Möchte man jedoch den Geist einfangen, den diese neuentdeckte außenpolitische Abenteuerlust in sich trug, so ist dieser nicht im Weißbuch der Bundeswehr zu finden, sondern in dem 1899 von Rudyard Kipling verfaßten Gedicht „The White Man’s Burden“. Für den imperialistisch gesinnten Autor des „Dschungelbuchs“ bedurfte es der nichtwestlichen Welt, und die war für Kipling gleichbedeutend mit einem in allen Belangen rückständigen Leben, an Führung – moralisch, politisch, zivilisatorisch. Das machte es zur Verpflichtung des weißen Mannes, jene „neugefangenen verdrossenen Völker, halb Teufel, halb Kind“ zu unterwerfen, zu entmündigen und zu seinem exotischen Ebenbild zu formen, das sich allenfalls in Aussehen und Sprache, nicht aber im Kern seiner Gesellschaftsauffassung von ihm unterschied.

Und tatsächlich schien in den ersten Tagen der erfolgreichen Offensive gegen die Taliban vieles an ein wildes Kolonialabenteuer zu erinnern. Unvergessen bleibt, wie im November 2001 amerikanische Spezialkräfte auf Pferden durch das unwegsame Bergreich preschten, um Jagd auf den Weltschurken Osama bin Laden zu machen, der auf der Flucht in das Felsenlabyrinth von Tora Bora war. Eine Szene, als ob sie von Karl May persönlich ausgedacht worden wäre.

Innerhalb weniger Wochen wurden die übriggebliebenen Schergen des Taliban-Regimes in die letzten Winkel des Landes verjagt. Es war die beeindruckende Demonstration einer weltweit einsatzfähigen Kriegsmaschinerie und ein großer Triumph. Frieden aber brachte es nicht. Denn der Bürgerkrieg, seine unbändige Gewalt, das Mißtrauen gegenüber dem Nächsten und generationenübergreifender Rachedrang, das alles blieb. Schnell mußten die Westnationen erfahren, daß hier gegenüber den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der erfolgreichen Reeducation der Deutschen eine verkehrte Welt vorherrschte. Die militärische Unterwerfung eines Gegners, dessen Streitkräfte aus einer Flotte von weißen Toyota-Pick-ups und AK-47-Schützen bestand, war ein Kinderspiel. Doch beim Versuch des Wiederaufbaus Afghanistans nach westlichem Vorbild wurden schon ein paar vergrabene Tonnen Plastiksprengstoff zu einem ernsthaften Problem. 

Bin Laden war zu diesem Zeitpunkt längst in Pakistan, geblieben war nur die Verantwortung des weißen Mannes für einen unüberschaubaren Trümmerhaufen. Und die bittere Erkenntnis, daß die zentralasiatischen Stämme in ihren Angelegenheiten keine Hilfestellung durch einen wohlmeinenden Überparteiischen duldeten. Fernsehbilder von Befreiern, die ohne Helme mit Kindern spielen und durch geteiltes Lachen eine gemeinsame Sprache finden, wichen schnell solchen von qualmenden Humvees, zerfetzten Gliedmaßen und vor Schrecken erstarrten, staubverkrusteten Gesichtern. Krieg nannte ein Verteidigungsminister das alles nun, ohne immer noch auch nur zu begreifen, worüber man eigentlich sprach.

Aber vielleicht hätte man Kipling zu Ende lesen sollen. Zwar erachtete dieser den Weg zur Weltzivilisation als unausweichlich, jedoch verstand er ihn als Passionsgang, gesäumt von Schrecken und Leid: „Die Häfen, in die ihr nicht einlaufen dürft, / die Straßen, die ihr nicht betreten werdet, / geht, macht sie mit euren Lebenden / und markiert sie mit euren Toten!“ Denn um den Menschen zu formen, bedarf es des Geschicks eines Gottes, für jeden anderen wird diese vermessene Aufgabe zu einem ermüdenden und quälenden Akt der Selbstausbeutung.

Wie läßt sich ein Feind bekämpfen, der nur ein Schatten ist? Wie eine Nation errichten, die sich nie als eine solche verstanden hat? Colonel Kurtz, der sinistere Antagonist aus Francis Ford Coppolas Vietnamdrama „Apocalypse Now“ verfällt dem Wahnsinn, als er sieht, wie der Vietcong Kindern, die seine Männer tags zuvor noch geimpft hatten, den Arm abschlägt. Deutlicher läßt sich die Segnung des westlichen Fortschritts nicht ablehnen. Ähnlich verfuhren die Taliban. Wurden Krankenhäuser errichtet, kam jemand in der Nacht, um sie niederzubrennen. War ein Dorfältester bereit, internationale Truppen zu beherbergen, wurde er nach deren Abzug aufgesucht und eines Besseren belehrt. Korruption, Stammesdenken und Veruntreuung der Aufbauhilfen gab es jedoch auch ohne die Einflußnahme der Gotteskrieger. Ein kluges afghanisches Sprichwort besagt: „Wenn der Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade werden.“ Im Land der Ingenieure wollte niemand auf diese einfache Weisheit hören.  

Wo die Bundeswehr operierte, war sie stark und unbesiegbar, doch Afghanistan ist ein weites Land und ein paar Tausend Männer sind nicht viel mehr als eine Handvoll Sand im Wind. Das Festhalten an der Idee einer Befriedung der Region trug hingegen immer wahnhaftere Züge. Die seit Clausewitz gültigen Grundsätze des Militärischen, die keinen Krieg ohne greifbaren politischen Zweck erlauben, wurden durch Durchhalteparolen ersetzt. Hauptsache keine neuen Gefallenen bis zur nächsten Wahl, der Rest würde sich schon irgendwie regeln lassen.

Am wenigstens wußten die Protagonisten dieses Kampfes, wozu sie eigentlich in die Schlacht zogen. Fragte man in den letzten zwanzig Jahren einen beliebigen deutschen Soldaten, warum er sich in Feindesland begab, hörte man immer dieselbe Antwort: Um meine Kameraden zu schützen. Man mag höchsten Respekt vor dieser stoischen Treue haben, man mag den Kopf schütteln über so viel Desinteresse an der Sinnhaftigkeit der eigenen Aufgabe. Denn die Absurdität des Krieges gegen den Terror besteht darin, daß man seinen Nächsten weder vor der Sprengfalle am Straßenrand noch vor einem Innentäter bewahren kann, der plötzlich im Feldlager das Feuer eröffnet. In einer Ausgangslage ohne strategische Perspektiven wird der Einsatz des Lebens zum makabren Glücksspiel. Die meisten kehrten mit Auslandszulage und martialischen Erinnerungsfotos zurück, andere ohne Augenlicht oder psychisch zerrüttet, manche hingegen gar nicht mehr.

Mit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan scheiterte viel mehr als eine militärische Mission. Zu groß waren die Ankündigungen über ein neues „Manifest Destiny“, eine kulturelle Urbarmachung für die postnationale Globalzivilisation. In Moskau, Peking und Teheran wurde sehr genau registriert, wie sich der Westen bei seinem Bekehrungsversuch an der Hartnäckigkeit paschtunischer Bergstämme die Zähne ausbiß. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hielt die unipolare Weltordnung unter amerikanischer Dominanz gerade einmal zehn Jahre, und das Prinzip des westlichen Universalismus erwies sich als kaum gefragte Exportware. Die Begeisterung für Cola und Jeans kann nicht pauschal mit einem Drang nach Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und liberaler Gesellschaftsordnung gleichgesetzt werden. Die Voraussetzungen für einen demokratischen Staat lassen sich außerhalb von Nordamerika, Europa und dem südlichen Pazifik nicht herstellen, am wenigsten mit Waffengewalt. Das ist das ernüchternde Fazit, aus dem dennoch keine Lehren gezogen wurden.

Und zwanzig Jahre später? Isaak Levi ist mittlerweile gestorben, worauf Zebulon Simentov verlauten ließ, daß er sich über den Tod des zweitletzten Juden Afghanistans ausgesprochen freue. Noch hält er die Stellung in der verfallenen Synagoge von Kabul, er plant jedoch seine Ausreise nach Israel. Selbst ihm ist es zu gefährlich geworden. Rudyard Kipling wird längst nicht mehr gelesen. Seine ethnozentrische Haßsprache löst bei zartbesaiteten Studenten Krampfanfälle aus, und der müde gewordene weiße Mann büßt derweil für seine Sünden und die der restlichen Welt. Nur die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Mit jedem Kilometer, den sich die Front näher an die Hauptstadt frißt, werden sie an Zustimmung gewinnen. Die Macht gehört demjenigen, der unerbittlich nach ihr greift.

Geblieben ist einzig die Trauer der zahlreichen europäischen und amerikanischen Familien, deren Angehörige im Gefecht fielen. Eine weitere afghanische Weisheit lautet: „Die Toten sprechen nicht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Wahrscheinlich werden die Zurückgelassenen nie erfahren, warum dieses Abenteuer am Hindukusch unbedingt gesucht werden mußte.

Fotos: Ehemalige Taliban-Kämpfer übergeben 2016 in Jalalabad ihre Waffen: „Wenn der Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade werden“; Zebulon Simentov in seinem Rosengarten im Innenhof der einzigen Synagoge von Kabul (2008): Der heute 62jährige ist der letzte Jude in Afghanistan