© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Willkommen in der Hölle
Zecken gegen Bullen: Der Roman „Sicherheitszone“ von Katrin Seddig verklärt die Krawalle während des G20-Gipfels vor vier Jahren
Dietmar Mehrens

Ein Seitenumblätterer, wie im Englischen Bücher genannt werden, deren Seiten sich wegen der mitreißenden Handlung wie von selbst umblättern, ist „Sicherheitszone“ nicht. Und am Ende wird es dann doch recht einseitig: Thomas bekommt Pfefferspray in die Augen, Alexander wird Zeuge, wie ein Polizist einen wehrlosen Demonstranten tritt, Imkes Freund Paul wird von einem Schlagstock getroffen, obwohl er nur helfen wollte, und Helga war bei den Nazis. Trotzdem hat die Hamburger Autorin Katrin Seddig einen interessanten Ansatz gewählt, um ein Stück Zeitgeschichte aufzuarbeiten: die Ereignisse rund um den Hamburger G20-Gipfel 2017. Die meisten Deutschen erinnern sich an die Bilder des Schreckens fast so genau wie an die vom Anschlag auf das World Trade Center, Bilder, die die Elbmetropole aussehen ließen wie eine Stadt im Bürgerkrieg. 

Die Autorin hat ihr Personal zeitgeistkompatibel angelegt

Die politischen Dimensionen des Gipfels, wer da mit wem warum tagte, interessieren die Autorin nur am Rande. Im Fokus stehen die persönlichen Erlebnisse der Familie Koschmieder. Zu ihr gehören die getrennt lebenden Eheleute Thomas und Natascha, Tochter Imke und Sohn Alexander sowie Oma Helga, die Mutter von Thomas. Thomas hat ein Antiquitätengeschäft am Rand der Sicherheitszone rund um das Gipfeltreffen, und seine beiden Kinder stehen bei den Krawallen in entgegengesetzten Lagern.

Die Möglichkeiten des Mehrgenerationenromans nutzten bereits die beiden Buchpreisgewinner Arno Geiger („Es geht uns gut“, 2005) und Eugen Ruge („In Zeiten des abnehmenden Lichts“, 2011), um ein möglichst vielschichtiges Zeitgemälde zu erschaffen. Die Handlung setzt ein halbes Jahr vor den Ausschreitungen ein. Thomas ist wegen einer Liebschaft ausgezogen. Natascha gibt dem Werben von Ronald, einem Freund ihres Mannes, nach. Ihr Adoptivsohn Alexander, von Beruf Polizist, ringt mit seiner Homosexualität, die Oma mit dem Alter und Alexanders Schwester Imke mit der Komplexität der Welt, in der die 17jährige ihren Platz noch nicht gefunden hat. Das ändert sich, als sie Elisabeth kennenlernt, ein Mädchen aus dem Antifa-Milieu, das von Bettelei und Gelegenheitsarbeiten lebt und ihre Freunde mit „Eh, ihr A***löcher!“ begrüßt. Imke läßt sich mitschleppen zu einem Jugend-gegen-G20-Treffen und verliebt sich in den Aktivisten Paul, mit dem es bald „zu einem befriedigenden Ergebnis in ihrem Geschlechtsverkehr“ kommt. 

Das Zitat zeigt, daß Seddigs Sprache nicht zu den schillerndsten in der deutschen Literaturszene gehört. Zwar gelingen ihr vereinzelt Schilderungen von poetischer Dichte und emotionaler Kraft, vor allem wenn sie die 87jährige Helga, ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen, auf Gedankenreisen in die Vergangenheit schickt; vieles ist aber auch trivial und schlicht. Besonders der erste Teil, der in den Monaten vor dem Gipfel spielt, entfaltet kaum erzählerischen Sog. Weder die Affäre von Thomas mit einer jungen Flüchtlingshelferin noch die Romanze zwischen Natascha und Ronald, die gemeinsam an dem kapitalismuskritischen Aktionskunst-Projekt „Tausend Gestalten“ mitwirken, generiert packende Konflikte.

Wie der Kunstaktion, bei der alle Akteure sich wie in Zeitlupe bewegen müssen, fehlt der ganzen Geschichte Tempo. Als Gipfel und Welcome-to-Hell-Demo endlich steigen, steigt zwar auch die Spannungskurve, aber Seddig verschenkt weiter viel dramatisches Potential. Daß keine Prügelszene, sondern ein verbaler Schlagabtausch zwischen dem „Bullen“ Alexander und der „Zecke“ Imke zum emotionalen Höhepunkt von „Sicherheitszone“ wird, ist bezeichnend.

Lange wirkt es so, als gehe es dem Roman nur darum, zu beobachten, dabei möglichst unbeteiligt zu bleiben und auch bei der Darstellung der Feindseligkeiten zwischen Polizei und Autonomen nicht Partei zu ergreifen. Doch Seddig hat ihr Personal so zeitgeistkompatibel angelegt, daß das am Ende wohl gar nicht gelingen konnte: Alle sind irgendwie links – und wenn sie es nicht sind, sind sie LGBT oder NSDAP. Das ist so plakativ, daß es schon fast wehtut. Besonders bedauerlich ist, daß die gebürtige Strausbergerin es nicht übers Herz bringt, Helga als rechte Identifikationsfigur unbeschädigt zu lassen. Denn die alte Dame, die  herzhaft wettert gegen Libertinage, sittliche Verwahrlosung und Homoerotik, ist für alle Wertekonservativen eine echte Sympathieträgerin. Herrlich, wenn sie schimpft: „Anständig gibt es ja gar nicht mehr“ – und sich nach dem Ehebruch ihres Sohnes auf die Seite ihrer Schwiegertochter schlägt. Doch Helgas Weltbild scheint der Autorin am Ende so wenig geheuer, daß sie sie zunehmend diskreditiert: als von gestern, als BDM-Mädel, das die NS-Verstrickungen ihrer Familie nicht bewältigt hat, als verstockte Oma mit Anzeichen von Demenz.

Sympathien für die linksextreme Szene entwickelt

Als Zeitporträt funktioniert der Roman gleichwohl: Vor allem die Männer sind anno 2017 nur noch ein Schatten ihrer selbst, eher Memmen als Männer. Die im mittleren Alter, Thomas und Ronald, sind weichlich-weinerliche große Kinder voller Ängste. Selbst ihre Affären sind nicht das Ergebnis von virilem Dominanzverhalten, sondern der Versuch des Ausbruchs aus der Lethargie und Langeweile einer zermürbenden Mittelmäßigkeit. Und Alexander, der junge Polizeibeamte, ist kein typischer harter Hund, sondern, wie seine Schwester lästert, ein „Omakind“, das überdies mit einer offenen Flanke herumläuft: seiner verborgenen Homosexualität. 

„Für manche Kids ist es einfach so ’ne Statussache: Die kleben sich Antifa-Aufkleber auf ihre I-Phones und setzen sich ’ne Sturmhaube auf, weil sie cool sein wollen. Möglicherweise wären sie auch zum IS gegangen.“ Mit Urteilen wie diesem, das Imkes Freund Paul über einige der Demonstranten fällt und das auch für die ideologisch verwandte „Fridays for Future“-Bewegung gültig sein dürfte, öffnet Seddig immer wieder die Tür für alle, die sich mit marxistischen Weltdeutungsmustern schwertun. Doch daß sie dem Leser nicht ersparen kann, Thomas, der die linksextreme Szene wegen ihrer Gewaltneigung zuvor beargwöhnte, zu einem Bekehrungserlebnis zu verhelfen, ist der finale Beweis für die moralische Schieflage des Romans: Nachdem er, obwohl unbeteiligt, von der Polizei durch Pfefferspray verletzt worden ist, entwickelt Thomas auf einmal Sympathien für die Systemkritiker.

Was die Autorin, deren Roman bereits vor seinem Erscheinen mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet wurde, allerdings nicht ahnen konnte: Dieselben Rechte, die Thomas am Ende so eloquent für Antifa-Demonstranten einfordert, reklamieren jetzt sogenannte Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner für sich.

Katrin Seddig: Sicherheitszone. Roman. Rowohlt Berlin, 2020, gebunden, 464 Seiten, 24 Euro