© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Nachdem die Computerstimme der Hotline nur die – offenbar falsche – Antwort auf die Frage wiederholte, wo der Zusteller das Paket gelassen hatte, wandte sich der Kunde hoffnungsvoll per E-Post an den Customer Service, um da zu erleben, daß weder Milad Karimian (erster Anlauf) noch Esinc-Simge (zweiter Anlauf) etwas anderes als sinnfreie Textbausteine lieferten. Bleibt nur der Briefverkehr, in der Hoffnung, daß irgendwo in der analogen Welt jemand zu finden ist, willens, sich tatsächlich mit dem Problem zu befassen.

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Mir fällt schwer einzusehen, wieso Menschen, die uneingeladen hergekommen und dageblieben sind, eine Vorzugsbehandlung erwarten.

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„Daher verlange ich ungehinderten Zugang zu den BBC-Nachrichten, damit wir wissen, für wen wir beten müssen.“ (Schwester Monica Joan)

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Das einmal in Karikaturen so beliebte Bild des Storchs, der die Kinder bringt, war mir immer rätselhaft, so unverständlich wie die Formel, eine (ungewollt) Schwangere habe „der Storch ins Bein gezwickt“ oder das alte Gedicht „Stork stork steine / mit de lange beine … / hat e kind gefunne / in dem kleinen brunne“. Die Vorstellung, es gebe zwischen Storch und Fruchtbarkeit einen Zusammenhang, scheint aber ursprünglich eine ernsthafte Bedeutung gehabt zu haben. In besonderem Maß war das Bild des kinderbringenden Storchs im deutschen Sprachraum (der Storch ist eine Art inoffizielles Wappentier des Elsaß) und in Skandinavien verbreitet. Was einen Zusammenhang mit der germanischen Überlieferung nahelegt. Vielleicht gibt der rätselhafte Gott Hönir aus der Edda einen Hinweis, der bei der Schöpfung der Welt eine Rolle spielte und sogar Ragnarök überstehen sollte. Hönir konnte Vogelgestalt annehmen und wurde oft als Hahn oder Schwan vorgestellt. Die Bezeichnung als „Langbeiniger“ spricht aber eher für den Storch. Nur nebenbei: Auf dem Taufstein der Kirche von Borby in Südschleswig, der im 12. Jahrhundert entstand, erkennt man einen Storch, der sonst in der christlichen Ikonographie gar keine Rolle spielt. Da steckt Adebar seinen Schnabel in ein Becken – das Taufbecken? –, um daraus zu trinken. Vielleicht Ironie, vielleicht heidnische Unbotmäßigkeit?

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In der Reihe ihrer historischen Rückblicke hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Ausgabe vom 21. Juli) auch das Ende der Ära Kohl nach der Bundestagswahl vom 27. September 1998 und den Wechsel zur ersten rot-grünen Koalition behandelt. Peter Sturm charakterisiert den Vorgang zutreffend als „Generationenwechsel“, als späten Sieg der „Achtundsechziger“ und als Erfolg des „Marschs durch die Institutionen“. Dazu zwei Anmerkungen: 1. Das, was Rudi Dutschke ursprünglich mit dem „Marsch durch die Institutionen“ gemeint hat, war, daß sich ein Teil der Subversiven in den staatlichen Einrichtungen getarnt festsetzen sollte, um am Tag X die Maske fallenzulassen und mit den Revolutionären, die offen gegen das System vorgingen, den Umsturz zu vollenden. 2. Die Schlußbehauptung Sturms – „Der damals propagierte Marsch durch die Institutionen war erfolgreich. Und die Institutionen hielten es aus“ – ist ein typisches Beispiel bürgerlicher Selbsttäuschung angesichts des Kulturbruchs von ’68. Denn wer kann im Ernst behaupten, daß Verwaltung, Armee, Universitäten, Schulen oder Kirchen noch in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen, nachdem die Achtundsechziger sie übernommen haben?

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Das Verb „verhängen“ wird zwar gelegentlich benutzt, um das Befestigen von etwas vor etwas anderem zu bezeichnen, aber in der Regel brauchen wir es nur, wenn es um das „Verhängen“ einer Strafe geht oder darum, daß etwas schicksalhaft „verhängt“ ist. In einer Abhandlung zur Religionsgeschichte wird die Meinung vertreten, daß diese Anknüpfung als die ursprüngliche betrachtet werden muß und mit der Vorstellung zusammengehört, daß schon zum Zeitpunkt der Geburt eines Menschen sein Schicksal feststeht, aufgehängt – „verhängt“ – ist, wie die Wiege am Dachbalken des Hauses.

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Wenn von „Generationengerechtigkeit“ die Rede ist, geht es in der Regel um die Ansprüche von Leuten, die für das Gemeinwesen nichts geleistet haben, aber Wortführer finden, die mit ihrer Altersgruppe in – historisch gesehen – einmaligem Wohlstand aufgewachsen sind und nun erwarten, daß ihnen weiter „alles auf den Sitz getragen wird“, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.

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Die Verwunderung darüber, daß den Kirchen zum Thema „Corona“ nichts einfällt, ist verwunderlich. An die traditionellen Deutungsmuster – „Strafe Gottes“ oder „Prüfung“ – traut sich keiner mehr heran. Das Äußerste an theologischem Wagnis ist schon, daß das Wort der „Bergpredigt“ – „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ (Matthäus 11.28) – den durch Homeschooling gestreßten Eltern und Kindern angesichts der Sommerferien Trost bieten soll.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. August in der JF-Ausgabe 34/21.