© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Ein vergangenes Sommermärchen
Der Autor Matthias Matussek erinnert sich an die Zeit, als er 2005 seinen von Vaterlandsliebe getragenen Bestseller „Wir Deutschen“ verfaßte, und erklärt, warum er das Buch so heute nicht mehr schreiben könnte
Matthias Matussek

Zu Beginn der Amstzeit von Angela Merkel, 2005, schrieb ich die letzten Sätze zu einem Buch, das heute nicht mehr verlegt werden könnte, ja zu einem, das ich so heute auch nicht mehr schreiben könnte: Es war eine Liebeserklärung an mein Land, an meine Heimat, an unsere Kultur. Es hieß „Wir Deutschen“ und im Untertitel, mit durchaus beabsichtigtem Doppelton: „Warum uns die anderen gern haben können“. 

Ich zählte eine Menge Gründe auf für die „andern“, uns gern zu haben, und sie taten es: Deutschland lag einer Umfrage der BBC zufolge auf Platz drei der favorisierten Nationen. Und ansonsten riet ich, nicht nach dem Applaus der Welt zu schielen, sondern im Zweifel durchaus zu sagen: Ihr könnt uns mal gern haben!

Ich schrieb das Plädoyer zu einem beschwingten Patriotismus im Sinne Heinrich Heines, und die Kritiken überschlugen sich vor Begeisterung. Heute würde es Verrisse hageln. Ulrich Wickert befand für eine Bauchbinde: „Matusseks schwarzrotgoldene Provokationen sind klug und witzig.“ Der FAZ-Rezensent sah in dem Buch „eine inspirierende Lektüre“. Die Zeit meinte, „noch schöner allerdings der Hang Matusseks zur politischen Inkorrektheit.“ Selbst die Süddeutsche jubelte über mein Brevier! Und die Bild: „Es ist ein Buch, wie Heinrich Heine, der Dichter der ‘Loreley’, es heute geschrieben hätte.“

Ja, ich träumte mich mit Heine übermütig und schwärmerisch in dieses neue Deutschland hinein, in das ich, nach langen Auslandsaufenthalten in New York, Rio de Janeiro und London, zurückgekehrt war. 

Im Ausland dachte ich über die deutsche Nation nach

Ich setzte mein Idol Harry Heine in ein Starbucks-Café und ließ ihn, der in seinen Tagen die höchsten Zeilenhonorare kassierte, in den Zeitungen und Magazinen wühlen, ich schrieb: „Ohne ihn würden wir anders reden, anders denken, anders seufzen, anders lachen. Er umgekehrt hätte seinen Spaß an diesem unverkrampften, friedlichen Land in der Mitte Europas, in dem jeder alles sagen darf und es auch noch drucken! Er ließe sich anregen mit der taz, dem Spiegel, mit der Süddeutschen, der Titanic …“

Doch dann, so meine Vermutung, würde sich seine Stimmung verdüstern, denn: „Wie soll er noch sein Geld verdienen in diesem Zeitungswirbel und Meinungssturm, unter all den munteren Kolumnisten und Feuilletonisten und Reportern? Unter all denen also, die ihn imitieren?“

Ganz offensichtlich ist in diesen unschuldigen Zeilen noch keine Ahnung von den Bitterkeiten und Verhärtungen der kommenden Jahre zu spüren, von den Verhöhnungen der Nation und den Verunstaltungen der deutschen Sprache im Dienste eines verbiesterten Tugendterrors. 

Noch keine Ahnung davon, wie sie der deutschen Sprache die Knochen im Leib brechen würden mit ihren Sternchen und Doppelpunkten und Binnen-Is. Einer Sprache, die doch durch ihn, Heine, so schön das Singen gelernt hatte, nachdem sie zuvor, in der Goethezeit, in klassischem Marmor gefunkelt hatte. All diese Verunstaltungen vordergründig, um dem weiblichen Geschlecht Reverenz zu erweisen. In Wahrheit aus Lust am Häßlichen, an der Behördensprache, ja aus Wut aufs Bildungsschöne.

In diesen oben zitierten optimistischen Zeilen war noch nicht von Cancel Culture die Rede, und nichts von dem schrecklichen Befund, daß zwei Drittel der Deutschen Angst davor haben, ihre Meinung zu sagen. Tatsächlich: Mein Heine wäre auf seinem Zeitreise-Trip in unsere Tage wieder in Metternichs Zensurstaat gelandet, wie bitter!

Ich hatte mein Buch nach langen Jahren im Ausland geschrieben. Nirgendwo fühlte ich mich heimatverbundener als dort draußen, ob in New York, Rio oder London, wo ich durch unsere neuen Freunde ständig gezwungen war, über mein Land zu berichten und darüber nachzudenken, was das bedeutet: die deutsche Nation.

Ich kehrte 2005 zurück in ein Land, das spürbare Ansätze zeigte, die Jahre des neurotischen Selbsthasses hinter sich zu lassen, in eine Nation, die sich zum Sommermärchen im Jahr darauf schwarzrotgold schminkte, und es waren schöne junge Frauen, die das taten, Familienväter, Kinder. Ich kam in ein Land, das endlich, 15 Jahre nach dem Mauerfall, die Antwort auf die Frage Ernst Moritz Arndts gefunden zu haben schien, die lautete: „Was ist des Deutschen Vaterland?“

Es war eine Nation, die mehr oder weniger mit sich im reinen zu sein schien, auch wenn die Wurzelbildung im Sinne der „Selbstbewußten Nation“, diesem zwischen Buchdeckeln gefaßten Denkersymposion Heimo Schwilks in der Nachbearbeitung von Botho Strauß’ „Anschwellendem Bocksgesang“, in der trivialen Spaßgesellschaft nur mühsam fortschritt. 

Doch immerhin: Meine ausländischen Freunde, etwa Steve Crawshaw vom Independent, riefen mich damals während des Sommermärchens an, um zu fragen, was mit uns los sei? Keine der von offizieller Seite befürchteten Neonazi-Krawalle, alles so locker und friedlich, und das Nationale sei offenbar nicht mehr verfemt. In London gab es noch kurz zuvor den britischen Comedy-act eines verklemmten „Hans“, der mit deutschen Nationalfarben durch die Straßen lief, um sich für die deutschen Verbrechen zu entschuldigen. 

Bis dahin, so Steves Beobachtung, hätten wir auf die Frage nach unserer Identität entweder verschämt „Europa“ genannt oder „Berlin“ oder „München“. Entweder das ganz Große oder das Kleine, nie jedoch die selbstverständliche Mitte, die Nation, wie es die Italiener, die Franzosen, die Polen ganz automatisch tun.

Doch die Lockerheit ist während der Regierungsjahre Merkels zunehmend verschwunden. Aus der entspannten Nation wurde ein Kampf- und Krampf-Verbund der Tugendstreber, der Weltverbesserer, der kriegerischen Ausgrenzer von Grünen und Antifa.

Die Kanzlerin nannte uns Deutsche nun nur noch „diejenigen, die schon länger hier leben“. Deutschland hieß auf einem Transparent, das im Bremer Fußballstadion entrollt wurde, „ein mieses Stück Scheiße“, ein Spruch, hinter dem auch die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth hergelatscht war, und Robert Habeck vom gleichen Grünen-Verein gab zu Protokoll, daß er „sowas wie Vaterland schon immer zum Kotzen“ fand.

In meinen Jugendjahren bin ich der deutschen Identität ausgewichen

Mein Buch war gegen diesen neurotischen Selbsthaß geschrieben. Denn ich hatte anderes kennengelernt: etwa die 4.-Juli-Paraden, die ich zum amerikanischen Unabhängigkeitstag noch im kleinsten Provinzkaff erlebte. Oder die bombastischen Feuerwerke in den französischen Badeorten zum 14. Juli, dem Gedenken an die Geburt der Republik – übrigens durch ein blutiges Massaker. Oder die landesweiten brasilianischen Feiern zum 500. Jahrestag des „Descobrimento“, der Entdeckung durch Pedro Álvares Cabral. 

Allerorten begeisterte Beschwörungen des nationalen Gemeinsinns. 

Ja, mir wurde Vaterlandsliebe durch die unerwartetsten Zeugen beigebracht. Etwa durch die Mitglieder des jüdisch-deutschen Stammtischs auf der Upper East Side in Manhattan. Einer war darunter, mit verwegener Augenklappe, der auf seiner Schreibmaschine noch das Manifest der IV. Internationale getippt hatte, das ihm Trotzki persönlich diktierte. Eine andere war mit Feuchtwanger befreundet. Alle hatten Angehörige, die in den KZs ermordet worden waren. Aber alle dort hielten die deutsche Kultur – die sie tatsächlich kannten und in Gedichten selig herbeteten – in Ehren und selbstverständlich die deutsche Küche mit Schweinebraten, Knödeln und Streuselkuchen. 

Mich erinnerte das an die Tränen des heimlich aus dem Exil zurückkehrenden Heine aus dem Wintermärchen: „Und als ich die deutsche Sprache vernahm/ da ward mir seltsam zu Mute,/ ich meinte nicht anders, als ob das Herz/ Recht angenehm verblute“.

Wie fast alle in meiner Generation bin auch ich in meinen stürmischen Jugendjahren der Frage nach meiner deutschen Identität dadurch ausgewichen, daß ich kulturell in den USA aufwuchs, genauer an der Westküste, noch genauer unter den Blumenkindern von Haight-Ashbury, einem hippen Stadtteil von San Francisco. Mit der Musik von Jefferson Airplane und den Doors, den Büchern von Jack Kerouac, Burroughs und Bukowski und Allen Ginsbergs „Howl“, eingemeindet in eine Generation statt in eine Nation.

Doch für mein Buch damals grub ich tiefer. Und ich machte mir und den Lesern klar, daß ich mich nicht für die Verbrechen meiner Großeltern-Generation verantwortlich fühlen konnte. Daß ich nicht glaube, daß wir ein Kainsmal auf der Stirn trügen und die deutsche Geschichte seit Arminius’ Sieg über die Römer auf den Holocaust zusteuerte. Daß ich Joschka Fischers Satz, Auschwitz sei „der Gründungsmythos Deutschlands“ für sündenstolzen Schwachsinn halte. 

Was ist nur passiert seither? 

Nach wie vor halte ich die „antifaschistischen“ Gesinnungstests unserer Tage für einen unwürdigen und billigen Schindluder mit Leichenbergen. Da ist Heiko Maas! Daß er „wegen Auschwitz in die Politik gegangen“ sei, halte ich für eine abgeschmackte Behauptung dieses zehn Jahre jüngeren Karrierepolitikers, dem Erfinder des Netz-Zensurgesetzes, der sich eine Widerstandsvita anprobiert wie einen seiner schmalen Anzüge.

Meine Erfahrung: Man liebte uns Deutsche im Ausland mehr, als wir es selber taten. In Rio de Janeiro verehrten unsere Freunde die Deutschen für ihre Sekundärtugenden, für Pflicht und Ordnung und Pünktlichkeit, was sie nicht daran hinderte, zu einem auf 20 Uhr angesetzten Abendessen erst gegen 22 Uhr aufzukreuzen. 

Aber wir lernten es zu schätzen, daß wir in unseren Heimaturlauben in Berlin auch nachts in jedem Viertel ausgehen konnten, ohne befürchten zu müssen, niedergeschlagen zu werden. Damals. Obwohl, zugegeben, Raubüberfälle konnten sich übrigens auch nachmittags am Strand in Ipanema ereignen, wie wir leidvoll erfahren mußten. 

Ja, ich lernte: Sicherheit und Ordnung sind wesentliche Güter.

In London lernte ich, mein Land im Kugelhagel britischer Feindseligkeiten und Niederträchtigkeiten zu verteidigen. Etwa bei einem Dinner in der deutschen Botschaft gegen meine Sitznachbarin, die geadelte Autorin Dame Antonia Byatt. 

Sie wollte wissen, was ich von der europäischen Verfassung hielte. Nun kannte ich niemanden, mich eingeschlossen, der sich je ernsthaft durch dieses 1000seitige Papiermonster gelesen hätte, also spielte ich den Ball zurück. Was sie davon halte?

„Wissen Sie“, näselte sie, „wir Briten brauchen keine geschriebene Verfassung, wir sind die älteste Demokratie der Welt.“ Dann setzte sie hinzu: „Für junge Nationen wie euch Deutsche mögen Verfassungen indes durchaus ihren Nutzen haben.“

Im Prinzip sagte sie: Ihr seid gerade von den Bäumen gestiegen und habt keine Kultur, ihr braucht die Kandare.

Ich hörte mich sagen: „Bei uns, Gnädigste, wurde das Frauenwahlrecht wesentlich früher eingeführt als bei Ihnen, was allerdings auch verständlich ist, wenn ich Sie so reden höre.“ Ich nahm einen Schluck Wasser. „Und was Verfassungen angeht: Ein paar Regeln täten ihrer kleinen verregneten Insel mit den verdreckten Krankenhäusern und den entgleisenden Zügen ganz gut.“

Das sagte ich natürlich nicht. Das fiel mir erst viel später ein. Zunächst war ich sprachlos.

Allerdings hatte ich recht, was die Krankenhäuser anging, ständig gab es dort Ausbrüche der berüchtigten „Hospital bugs“, also tödlicher Keime. Und ständig entgleisten die notorisch unpünktlichen Züge des privatisierten Schienenverkehrs in „Cool Britannia“. Und ich, kaum kam bei Dinner-Einladungen die Sprache darauf, gab an mit unserem ICE-Netz, nach dem man die Uhr stellen könne. 

Angesichts des verluderten ICE-Betriebs in Deutschland ist mir der Spott mittlerweile vergangen. Und nach dem jüngst erlebten, drastischen Behördenversagen, sowohl in der Corona-Politik wie in der Hochwasserkatastrophe sind unsere preußischen Tugenden nur noch ein Klischee aus besseren Tagen.

In meinem Buch hatte ich ebenfalls die „Vorsprung durch Technik“-Werbung des Audi-Konzerns gerühmt, weil sie ihren Spruch sogar auf der Insel selbstbewußt auf deutsch plakatierten. Mittlerweile läßt Audi, die Gründung des Zwickauer Autobauers August Horch, seine Verbrenner-Motoren in China herstellen; in Deutschland werden sie in absehbarer Zeit ohnehin verboten sein.

Deutsche Technik – ja, auch die Kernkrafttechnik – war Jahrzehnte lang ein Exportschlager. Auf dem Weg zu unserem brasilianischen Feriendomizil, der Ilha Grande, passierten wir nicht nur ein großes VW-Werk, sondern auch die Kernkraft-Meiler, die Siemens dorthin gebaut hatte. 

Wir sollten uns wieder auf unsere tatsächlichen Stärken besinnen 

Mittlerweile opfern wir unsere Hochtechnologie auf dem Altar des Klimaschutzes und sind Abgehängte im Zeitalter der Digitalisierung, und das, obwohl wir uns eigens eine Staatssekretärin für Digitalisierung leisten, und zwar, so wichtig ist uns das, im Kanzleramt. Trotzdem belegen wir europaweit einen der letzten Plätze, noch hinter Albanien. In den naturwissenschaftlichen Pisa-Tests sind wir auf Platz 25 abgerutscht, noch hinter die Türkei. Deutschland, ein Trauerspiel – wie ich es in meinem Buch „White Rabbit“ beschreibe, das die bittere Bilanz der letzten 16 Jahre zieht.

Aber was wäre, wenn wir uns wieder auf unsere tatsächlichen Stärken besinnen würden nach diesen 16 verlorenen Jahren? Was wäre, wenn wir uns erneut, mit all unserer Ingenieurkunst, etwa den Fusionsreaktoren zuwendeten und die Schamanen des grünen Hokuspokus zum Teufel jagten? Wenn wir unsere Infrastruktur aufmöbelten und reparierten, die gegenwärtig aussieht wie die vermüllte Wohnstube eines Messies. 

Was wäre, wenn wir unsere Herzen romantisch höher schlagen ließen und gleichzeitig auch den Witz Heines nutzten, der uns beibringt, uns darüber herzzerreißend zu amüsieren? Ja, was wäre, wenn wir uns in unserer Tugendhaftigkeit, die von Bigotterie oft nicht zu unterscheiden ist, weniger ernst nähmen? Wie war das im Wintermärchen mit dem Harfenmädchen? „Sie sang mit wahrem Gefühle/ Und falscher Stimme, doch ward ich sehr./ Gerühret von ihrem Spiele.“ 

Und wenn wir lächelnd zur Kenntnis nähmen, was Harry Heine schon im vorletzten Jahrhundert wußte: „Franzosen und Russen gehört das Land./ Das Meer gehört den Briten./ Wir aber besitzen im Luftreich des Traums/ die Herrschaft unbestritten.“

Und dann all die Fehler vermieden, die sich aus diesem Zustand in der Politik ergeben. 

Wir sollten lernen, Politik mit möglichst klarem Verstand zu betreiben, und unsere Träume dort nutzen, wo sie uns beflügeln, zu Spiel und Leichtigkeit, zu Erfindungen – und zu Liebe zu uns selbst!

Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. S. Fischer, Frankfurt/Main 2006, gebunden, 352 Seiten, nur noch antiquarisch