© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Was ist nur daraus geworden?
Internet: Vor 30 Jahren machte Tim Berners-Lee sein World Wide Web öfffentlich
Gil Barkei

Wissen Sie noch, was Sie am 6. August 1991 gemacht haben? An diesem Tag vor 30 Jahren wurde die Welt verändert, ohne daß die meisten Menschen davon etwas mitbekommen haben. An jenem Sommertag machte Tim Berners-Lee seine bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) entwickelten Grundlagen für ein World Wide Web öffentlich – passenderweise in einer Newsgroup, einem Vorläufer der Internetforen. Der britische Physiker und Informatiker schuf damit das moderne Internet. 

Die erste Verbindung zweier Computer samt Datenübertragung fand zwar bereits am 29. Oktober 1969 zwischen der University of California in Los Angeles und dem Stanford Research Institute im Silicon Valley nahe San Francisco statt. Doch dieses „Arpanet“ war ein nicht-öffentliches Computernetzwerk im Auftrag des US-Militärs, über das sich die Hochschulen, die für das Verteidigungsministerium forschten, austauschen sollten. Im Laufe der Achtziger fand die Umstellung auf das „Internet Protocol“ statt. Die Kommunikation der Einrichtungen, die nun auch im Ausland lagen, erfolgte über das Foren-Netzwerk Usenet und die 1971 erfundene E-Mail. Die erste elektronische Post in Deutschland trudelte 1984 bei der Universität Karlsruhe ein. 

Auch Berners-Lees WWW diente anfangs mehr der internationalen wissenschaftlichen Diskussion, obwohl kurz zuvor die National Science Foundation der Vereinigten Staaten das Internet für kommerzielle Zwecke über die Unis hinaus freigegeben hatte. Erst mit dem Webbrowser Mosaic erfuhr „das Netz“ ab 1993 eine breite Aufmerksamkeit und wurde für den Normalbürger oberflächengrafisch sicht- und bedienbar. Viele haben bestimmt noch die Telekom- und AOL-Werbung vor Augen sowie das Kreischen und Quietschen der Modems im Ohr.

Aufbruchstimmung und „Digitale Demokratie“

Neben Unternehmen und Privatpersonen entdeckten auch langsam die ersten Pressevertreter das neue digitale Medium und entwarfen eigene „Websites“, die auf der von Berners-Lee geschaffenen Hypertext-Auszeichnungssprache (HTML) basieren. Seine Netzseite aus dem Jahr 1990 zum Austausch mit anderen Forschern gilt als erster Blog. Daraus entwickelten sich im Laufe der Jahre nicht nur Internet-Tagebücher, sondern auch neue Online-Zeitungen und Medienmarken. Als erstes Medium weltweit ging 1994 der Spiegel online, kurz darauf folgte das Time Magazin.

War dieses Web 1.0 noch recht starr und vorgefertigt, so entwickelte sich in den nuller Jahren das Web 2.0 zu einer interaktiven Gestaltungsplattform, auf der jeder mit Internetzugang in Echtzeit seine Spuren hinterlassen konnte. In sozialen Netzwerken wie MySpace (gegründet 2003), Facebook (2004), Youtube (2005), Twitter (2006) und Instagram (2010) konnte der Nutzer nicht nur Konsument, sondern auch Produzent sein. Apps und Smartphones mit Foto- und Videokamera machten die Anwendungen mobil nutzbar. 

Der erfolgreiche US-Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama 2007/08 sollte diese Internetnutzung in ihrer Bedeutung für Politik und Medien für immer verändern. Bereits im US-Wahlkampf 2004 zwischen John Kerry und George W. Bush wurde am Rand des Offline-Wahlkampfs auf digitale Kommunikationstechnologien zurückgegriffen. Obama, der damals eine Grundsatzrede für seinen Parteikollegen Kerry hielt, verfolgte diesen Internetwahlkampf aus nächster Nähe. Als er am 10. Februar 2007 seine eigene Kandidatur bekannt gab, hatte er bereits Fachleute wie Chris Hughes, einen Mitbegründer von Facebook, Zephyr Teachout oder Joe Rospars mit dessen Internetdienstleistungsfirma Blue State Digital in seinem Team. 

Rospars und Teachout organisierten Anfang 2004 den Wahlkampf des Demokraten Howard Dean um die Ernennung zum Spitzenkandidaten seiner Partei für die Präsidentschaftswahl. Das Rennen kann als erster internetbasierter Wahlkampf überhaupt bezeichnet werden, bei dem politische Blogs, Online-Spendenfunktion und die Organisation von Veranstaltungen über das Internet kombiniert wurden. Der später unterlegene Dean sammelte die damalige Rekordsumme von 27 Millionen Dollar über Online-Spenden.

Blue State Digital griff diese Ansätze 2007 auf und schnürte daraus für Obama ein komplettes Paket mit digitalen Werkzeugen, die auch andere Politiker und Medien aufgriffen. So beantworteten beispielsweise die elf aussichtsreichen Bewerber für das Amt des Präsidenten auf den Webseiten von MTV und MySpace Fragen von Bürgern, die sich per E-Mail, SMS oder Instant-Messaging wie ICQ oder MSN an die Kandidaten wenden konnten. Etwa 2,6 Millionen Zuschauer verfolgten sogenannte YouTube-Debates, eine Kooperation der Videoplattform mit CNN. Mit zunehmendem Erfolg der Online-Kampagnen wurden stetig mehr klassische Medien auf die Geschehnisse aufmerksam – „Clickocracy“ nannte die Washington Post das Gesamtphänomen.

Der Durchschnittsbürger konnte plötzlich Reporter, Filmemacher und Fotograf sein. Politiker und Firmen konnten ohne Umwege über Zeitungen, TV-Sender und Radiostationen ihre Wähler und Kunden ansprechen. Die alten Gatekeeper in den Redaktionen verloren an Macht. Zudem wurde der Zeitdruck auf die Presse erhöht, gleichzeitig wurden jedoch die Möglichkeiten erweitert, Stimmen und Fotos von vor Ort in die Berichterstattung einfließen zu lassen – allerdings unter der zunehmenden Herausforderung, das Material zu verifizieren. Die deutschen Medien und Parteien beobachteten die Geschehnisse in den USA aufmerksam. Aus Web 2.0 wurde Politik 2.0. Und so gehörte im Superwahlkampf 2009 eine Online-Kampagne zu allen Sendern und Parteien. Politische Profile schossen bei StudiVZ, Facebook und Twitter aus dem Boden. Die damals im deutschsprachigen Raum populären VZ-Netzwerke boten den Parteien und Politikern direkte Kooperationen und sogenannte Edelprofile an und installierten zahlreiche Politseiten und -gruppen. Zusammen mit ZDF, Zeit Online, politik.de, Youtube, Welt Online, tagesspiegel.de, Spiegel Online und sueddeutsche.de startete das Unternehmen zudem eine „Wahlzentrale“. Es folgten Formate wie „Wechselwähler-WG“, „Meine Stimme zählt!“, „Live-Talk mit sueddeutsche.de“ , „VZ-Lautsprecher“ und viele mehr. Aufbruchstimmung, Graswurzelbewegungs-Hype. 

Im Iran kam es 2009 gleichzeitig zu insbesondere über Twitter organisierten Protesten gegen das Mullah-Regime. Der digital in die Welt getragene sogenannte Arabische Frühling folgte 2010. Der Journalist Frank Patalong bezeichnete die sozialen Medien im Spiegel als „Waffe der Massenverbreitung“, eine „Web-Revolution“. Das Schlagwort der „Digitalen Demokratie“ machte die Runde.

Von Freiheit und Offenheit ist wenig übriggeblieben

Eine neuartige Schwarmintelligenz blickte mit online-gestützten Argusaugen auf politische und mediale Handlungen, weshalb der Harvard-Professor Yochai Benkler dem Internet auch die Aufgabe eines „media watchdog“ zuschrieb. Für den Schweizer Publizistikwissenschaftler Kurt Imhof schafften sich die Menschen ihre eigenen „Bürgermedien“ und klärten sich selbst auf, wodurch sie dem nach Immanuel Kant vernunftorientierten „Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ näher rückten – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Von dieser Begeisterung in Politik und Medien ist heute wenig übrig. Mit dem Sieg des „falschen“ Politikers Donald Trump 2016 und dem Erfolg regierungskritischer konservativer Medien und Netzwerk-Accounts haben Löschungen und staatliche Eingriffe vom NetzDG bis zum Digital Services Act der EU (JF 29/20) eingesetzt. Die Mainstreammedien drängen mit aller Macht in den digitalen Raum, um – unterstützt von Politik und BigTech – alte Torwächterpositionen zurückzuerlangen. Die Ideen von Freiheit und Offenheit des Internets werden so ad absurdum geführt. „Wenn wir kein offenes, neutrales Internet haben, auf das wir uns verlassen können, ohne uns sorgen zu müssen, was an der Hintertür passiert, kann es auch keine freie Regierungsform, ordentliche Demokratie, vernünftiges Gesundheitswesen, verknüpfte Gemeinschaften und kulturelle Vielfalt geben“, kritisierte Tim Berners-Lee bereits 2014 im Zuge seiner Forderung nach einer globalen Internet-Verfassung.