© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Die Deplazierten
„Displaced Persons“ als Erbe von Verschleppung, Kollaboration und Zwangs-arbeit: Nach 1945 befanden sich in Deutschland über sechs Millionen Ausländer
Matthias Bäkermann

Niemals zuvor in der Geschichte hielten sich in Deutschland so viele Menschen fremder Nationalität auf wie im Mai 1945. Neben mehreren Millionen Besatzungssoldaten der Siegermächte und etwa zwei Millionen Alliierter in deutscher Kriegsgefangenschaft lebten Mitte 1945 in den Grenzen des Reiches laut den Zahlen des alliierten Hauptquartiers „Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force“ (Shaef) 6,362 Millionen „Displaced Persons“ (DPs). Als letztere wurden alle „Zivilisten außerhalb ihrer Heimatstaaten“ definiert. Die Masse von ihnen waren Zwangsarbeiter aus den von der Wehrmacht besetzen Ländern, die zur Arbeit in deutschen Betrieben verpflichtet worden waren. Dazu kamen sogenannte „Hilfswillige“ (Hiwis), meist Osteuropäer, die freiwillig Dienste für die deutschen Truppen leisteten oder regulär in der Rüstungsindustrie im Reich arbeiteten, ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager und Osteuropäer, die nach 1944 vor der Roten Armee geflüchtet waren. Die augenfällige Heterogenität dieser Gruppe macht deutlich, vor welchen Problemen die Verantwortlichen bei der Behandlung der DPs standen. 

Befreiung, Versorgung und Repatriierung als alliiertes Ziel

Bereits 1944 geriet die Zukunft dieser DPs in den Fokus des alliierten Oberkommandos im Westen, obwohl man deren Quantifizierung noch nicht vornehmen konnte. „You will stand fast and not move!“ forderte US-General Dwight D. Eisenhower die DPs auf. Dabei spielte nicht nur die Sorge eine Rolle, daß abertausende herumziehende DPs das Chaos im Feindesland für die Alliierten vergrößerten oder gar den Vormarsch behinderten. Vielmehr wollte man von Anfang an die Kontrolle über diese Massen behalten – und das ging am besten, wenn die DPs in ihren Lagern und Arbeitsstätten in Deutschland ausharrten. Im Memorandum No. 39 vom 18. November 1944 wurde das Grundkonzept für die Behandlung der DPs als „hohes alliiertes Ziel“ festgesetzt: Befreiung, Versorgung und Repatriierung. Im März setzte Stalin auf der Konferenz von Jalta noch eine Modifizierung dieses Memorandums durch, wonach alle früheren Sowjetbürger „ausnahmslos“ in die Sowjetunion zurückzubringen seien, das heißt, auch gegen individuelle Wünsche und im Zweifel mit Gewalt. Zudem setzte Stalin durch, daß dieses pikante Zusatzabkommen weder im Abschlußkommuniqué der Konferenz von Jalta erläutert wurde noch zur Veröffentlichung anstand.

Bereits nach dem Rheinübertritt der Westalliierten im März 1945, spätestens aber nach der Kapitulation am 8. Mai und dem Wegfall der deutschen – bis dahin oft noch funktionstüchtigen – Administration, sollte sich zeigen, welche atemberaubende Aufgabe mit dem Sheaf-Memorandum auf die Alliierten zukam. Allein für den Betrieb und die Aufrechterhaltung des Lagerwesens für die DPs waren 6.000 Offiziere und 12.000 Mannschaftsdienstgrade völlig freizustellen, täglich mußten Lebensmittel in Form von 2.000 Kalorien für 4,5 Millionen Menschen herangeschafft werden, was die die Hauptlast tragenden US-Amerikaner im Juni 1945 neben der Versorgung ihrer eigenen Truppen und Millionen deutscher Kriegsgefangener an die Grenzen der Leistungsfähigkeit führte. 

Ein weiteres Problem stellten viele DPs dar, die unmittelbar nach ihrer Befreiung „in wandernden Horden“ plündernd durchs Land zogen, wie die New York Times über den Abschnitt der in Hessen vordringenden US-Truppen berichtete. Die britischen Truppen waren im Sommer 1945 sogar dazu gezwungen, mit Waffengewalt gegen meist polnische DP-Gruppen aus Emsland-Lagern vorzugehen. Diese zogen bewaffnet und teilweise in Kompaniestärke umher, um von Habgier und Rachegelüsten durchdrungen bei den Bauern der umgebenden Regionen zu marodieren – „an overnight change from bondage to vagabondage“, kommentiert dies die Londoner News Chronicle schon im April 1945.

Belastend war zudem insbesondere für Briten und US-Amerikaner die Zwangsrepatriierung der DPs, welche nicht ins Schattenreich Stalins zurückkehren wollten. Oft entzogen sich diese durch Flucht ihrer Deportation in den sowjetischen Machtbereich, leisteten sogar Gegenwehr oder suchten den Ausweg teilweise in Massenselbstmorden. Bei der Übergabe an die Sowjets mußten Angehörige von US Army oder der britischen Rhine Garnison oft erschütternde Szenen der Gewalt von Rotarmisten gegenüber den DPs beobachten, nicht nur bei ehemaligen Angehörigen der Wlassow-Armee, sondern auch gegen sowjetische Kriegsgefangene, die man als vermeintliche Feiglinge und Deserteure in Empfang nahm und die später nicht selten in die sibirischen Gulags verfrachtet wurden. 

Im Juli 1946 ließen viele Juden aus Osteuropa die DP-Zahlen steigen

In einem DP-Lager in Kempten prügelten US-Soldaten russische DPs, darunter auch viele Frauen und Kinder, mit Gewehrkolben auf bereitstehende Lastwagen. „Einige Frauen warfen ihre Kinder, um sie zu retten, über den Zaun in das angrenzende Baltenlager“, schildert ein Soldat später die verzweifelte Situation. Im Konzentrationslager Dachau gelang es den US-Amerikanern im Januar 1946 nur mit Tränengas, in die Baracken der zur Zwangsrepatriierung anstehenden Russen vorzudringen. „Es waren nicht Menschen in den Baracken, als wir hineinkamen. Die GIs schnitten die meisten rasch los, die sich an den Deckenbalken erhängt hatten. Die, die noch bei Bewußtsein waren, schrien uns auf russisch an (…) und baten uns flehentlich, sie zu erschießen“, berichtet ein beteiligter Kriegsreporter der Armeezeitung Stars & Stripes. Der Transport fand dennoch statt wie vorgesehen, berichtet der Historiker Wolfgang Jacobmeyer 1985 in seiner Habilitation „Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951“.

Für die drittstärkste Gruppe unter den DPs, die Balten, galten verschiedene Bestimmungen. Einerseits waren sie dem Verdacht ausgesetzt, NS-Kollaborateure zu sein. Das galt nicht nur für Angehörige der Waffen-SS, sondern auch für viele Intellektuelle, Politiker und Vertreter von Wirtschaft und Kirche aus Estland, Lettland und Litauen, die vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geflohen waren. „Fast alle von ihnen bevorzugen unseren Feind Deutschland gegenüber unserem Verbündeten Sowjetunion“, beklagte sich ein US-Offizier bei der seit Herbst 1945 für die DPs zuständigen United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Andererseits wurde das in Jalta modifizierte Memorandum unterschiedlich ausgelegt. Abweichend von Stalins Wünschen wurde von den Briten und US-Amerikanern der sowjetische Territorialgewinn in Osteuropa nach 1939 nicht für die Bestimmung der Staatsangehörigkeit anerkannt, von den Franzosen hingegen schon. So kam es zu der merkwürdigen Praxis, daß Balten und sogar Polen aus den im September 1939 von den Sowjets eroberten Gebieten zwangsweise repatriiert wurden, wenn sie in der französischen Besatzungszone lebten und ihre Landsleute aus den anderen Zonen davon verschont blieben. Die Briten schützten in ihrer Zone später sogar viele der klar unter das Jalta-Abkommen fallenden Ukrainer angesichts der offensichtlichen Greuel an den rückkehrenden DPS bei der Abschiebung unter Stalins Knute.

Trotz der vielen widrigen Umstände lief die Repatriierung der DPs 1945 auf Hochtouren, von Mai bis September reduzierte sich die Zahl um gewaltige 4,6 Millionen Menschen in den alliierten Westzonen, über 30.000 täglich. Dann jedoch kamen die Transporte wegen ungünstiger Witterungsbedingungen ins Stocken, bis sie im Winter 1945/46 ganz eingestellt wurden. Anders als bei den Vertreibungen der Deutschen aus Ostdeutschland galt nämlich laut alliierter Übereinkunft für den Transport der DPs, daß beheizte Eisenbahnzüge zur Verfügung gestellt werden mußten. Zum Transport standen aber in der Regel nur unbeheizte Waggons zur Verfügung. Doch selbst als im März Eisenbahntransporte wieder möglich waren, blieben die Repatriierungen marginal. Das lag eben auch daran, daß mit vielen Polen und Sowjets 1945 die größten Gruppen schon verschwunden waren. Etliche Oppositionelle und vor allem polnische Juden wollten aber nicht zurück. 

Besonders die Gruppe der jüdischen DPs vergrößerte sich im Laufe des Jahres 1946 sogar noch beträchtlich. Die Drangsalierungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber diesen im Holocaust geschundenen Minderheiten schwollen wieder an, es kam sogar zu tödlichen Pogromen wie im polnischen Kielce im Juni 1946 (JF 27/21). Daraufhin setzte vor 75 Jahren im Sommer 1946 ein regelrechter Massenzustrom von Zehntausenden Juden in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands ein, der die Zahl der jüdischen DPs um das Dreifache wachsen ließ und die Besatzungsbehörden in der US-Zone sogar zwang, bereits geschlossene DP-Lager wieder zu öffnen. 

Der Aspekt dieser jüdischen Migration 1946 verdeutlichte außerdem immer mehr, daß das Konzept der Repatriierung keine Lösung mehr darstellte. Diese Menschen wollten lieber auswandern, überwiegend nach Palästina oder nach Übersee. Und auch bei den Alliierten reifte die Einsicht, daß die DP-Problematik anders bewerkstelligt werden mußte. Nachdem Ende 1946 die Verantwortung von der UNRRA auf die International Refugee Organisation (IRO) übertragen wurde, wurden Anfang 1947 erste Konzepte einer Auswanderung (Resettlement-Programm) in Gang gesetzt, da der Verbleib von Hunderttausenden DPs im kriegszerstörten Deutschland kaum Perspektiven versprach. 

Über 700.000 DPs wanderten nach Israel oder Übersee aus

Auch die Spannungen mit vielen Deutschen, besonders den Ostvertriebenen und Ausgebombten, die mit den DPs als direkte Konkurrenten um den knappen Wohnraum rangen, nahmen nicht ab. Vielfach gab es Neid der Deutschen auf Sonderrechte und im Hungerwinter 1946/47 vor allem auf die besseren Verpflegungssätze der DPs. In der Bevölkerung herrschende Vorurteile über eine höhere DP-Kriminalität wurden durch immer wieder auftretende Verbrechen in deren Milieu, insbesondere im Schwarzmarktwesen, genährt. 

Aber auch seitens der DPs gab es oft den sehnlichen Wunsch, der Not im Nachkriegsdeutschland in die „reichen Länder“ wie USA, Kanada oder Australien zu entfliehen oder – für viele Juden – am Aufbau des verheißenen Staates Israel mitzuwirken. Am 1. Juli 1947 lief das Resettlement-Programm an. Bis Ende 1951 konnten über 700.000 DPs in die Aufnahmeländer auswandern, die meisten in die USA (274.000), gefolgt von Australien (136.000), Kanada (83.000), Israel (70.000), England (56.000) oder Südamerika (35.000). 

Die 1951 in der Bundesrepublik verbliebenen etwa 130.000 DPs, größtenteils Balten, Russen und Ukrainer, erhielten über das „Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet“ als Staatenlose ständiges Aufenthaltsrecht und konnten vereinfacht einbürgert werden. Ähnlich wie die Notunterkünfte der Vertriebenen wurden die letzten DP-Lager Ende der fünfziger Jahre aufgelöst, die Integration in die bundesdeutsche Wirtschaftswunder-Gesellschaft verlief danach weitgehend geräuschlos.