© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Nur Granit ist für die Ewigkeit
Vor vierzig Jahren wurde in Burg auf Fehmarn ein Denkmal für die Vertriebenen des deutschen Ostens eingeweiht / Die JF sprach mit dem aus Königsberg stammenden Initiator Edmund Ferner
Martina Meckelein

Für jede der ostdeutschen Provinzen steht ein grauer großer Stein: Ostbrandenburg, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien. Ein sechster Stein erinnert an Danzig, das bis zum Kriegsausbruch 1939 als Freistaat einen autonomen Status hatte. Die Wappen und Namen sind von einem Ostpreußen geschmiedet, eingelassen in Ostseefindlinge aus Granit. Als siebter und größter Stein ragt der mittlere empor, der schleswig-holsteinische. Seit vierzig Jahren stehen sie in der Stadt Burg auf Fehmarn. Die Gedenkstätte erinnert an die besetzten deutschen Ostgebiete, ihre verjagten und ermordeten Menschen, ihre vergessene Kultur und ihre okkupierten kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen.

Wie die über 1.500 Vertriebenendenkmäler, die einst über die ganze Bundesrepublik verteilt waren, wurden die meisten auf lokaler Ebene von örtlichen Vertriebenenverbänden meist in den fünfziger und sechziger Jahren errichtet. Viele Denkmäler sind im Rahmen von Patenschaften westdeutscher Kommunen für die Vertriebenen einer ehemals ostdeutschen Stadt entstanden. Als einziges Bundesland hat der Freistaat Bayern seit 1998 ein zentrales Vertriebenendenkmal in Nürnberg errichtet.

Nicht selten wurden die Denkmäler abgeräumt oder verkamen über die Jahrzehnte. In Osnabrück wurde beispielsweise viele Jahre eine Lehrschau mit Trachten aus Oberschlesien, Spitzen aus dem Erzgebirge, Bernstein aus Danzig und anderem Kulturgut in einem historischen Wehrturm der Wallanlagen gezeigt. Irgendwann wurde die Ausstellung aufgelöst, heute ist der Verbleib der oft während der Flucht geretteten Bestände unbekannt. Genauso wie der des 1954 am Turm angebrachten eisernen Schriftzuges „Ewig deutscher Osten“, den die Stadt in den neunziger Jahren abmontieren ließ. 

„Es tut weh, mit den heutigen Migranten gleichgesetzt zu werden“

Die JUNGE FREIHEIT sprach mit dem Initiator der Gedenkstätte auf Fehmarn, Träger des Bundesverdienstkreuzes und amtierenden Landesvorsitzenden der Landsmannschaft Ostpreußen in Schleswig-Holstein, Edmund Ferner (85). Warum engagiert er sich so unermüdlich für Deutschlands Osten? „Es ist die Sucht nach Gerechtigkeit und Wahrheit“, sagt er. „Ich spüre eine Gerechtigkeitswut in mir. Wissen Sie, es tut uns Flüchtlingen weh, daß wir mit den heutigen Migranten gleichgesetzt werden“, sagt Ferner. „Wir sind gelaufen und gerannt um unser Leben. Die heutige Migration hat doch keine Ähnlichkeit mit unseren Fluchtgründen damals.“

Ferner wird 1935 in Königsberg geboren, der Vater fällt 1941 als Panzerkommandant an der Ostfront in Smolensk. 1943 folgt die Umquartierung nach Masuren, man befürchtet Luftangriffe auf Ostpreußens Hauptstadt. 1945 geht es für den Jungen und seine Mutter wieder zurück nach Königsberg. Von dort mit einer Handtasche, einem Köfferchen und einem Rucksack nach Pillau und weiter nach Gotenhafen. Es ist eisig. Das Kind befindet sich schon auf der „Gangway“ der Gustloff, ihre vermeintlich rettende Reling ist zum Greifen nah, als der Kapitän den Befehl gibt: „Keiner darf mehr an Bord!“ Zwei Tage später bekommen die beiden auf einem umgebauten Kohlenschiff die rettende Passage nach Westen. An der Stelle, an der die „Gustloff“ mit 8.000 – oder sind es 11.000? – Menschenseelen gesunken ist, müssen alle Passagiere an Deck – eine halbe Stunde in eisiger Luft stehen. Womöglich versucht wieder ein Russen-U-Boot an dieser Stelle ein Flüchtlingsschiff zu torpedieren. Das Deck ist zwar keine Lebensversicherung, aber eine Chance. Auf den vorbeitreibenden Eisschollen sieht das Kind Koffer, Taschen, Bündel – was von der „Gustloff“ übrigblieb. In Swinemünde auf dem Bahnhof steht der Junge gegenüber einem gekennzeichneten Lazarettzug. In dem Moment greifen Bomber den Zug an. Die Wagen explodieren und brennen. Maschinengewehrsalven donnern. Langsam öffnen sich die schweren Waggontüren. Die Verwundeten und Amputierten kriechen an die Rampen, lassen sich mühsam aufs Schotterbett fallen – sie wollen lieber erschossen werden, als bei lebendigem Leibe verbrennen.

Es sind Edmund Ferners Augen, die dieses Grauen gesehen haben. „Ich habe damals solches Glück gehabt – immer wieder“, sagt Ferner rückblickend. Es hört sich ein wenig so an, als ob er das selbst gar nicht so recht für möglich halten kann – auch heute noch. Gemeinsam mit seiner Mutter überlebte er das Inferno der Flucht. „Unser Ziel war Lübeck. Wir brauchten von Stettin zwei Wochen mit den Zügen.“ In Lübeck lebten Verwandte der Familie, die Stadt mußte nur einen schweren Luftangriff ertragen. „Die Innenstadt war zwar zerstört, doch ansonsten war Lübeck intakt“, sagt Ferner. Nach dem Krieg nahm Schleswig-Holstein 1,6 Millionen Flüchtlinge auf, dabei hatte das Land zwischen den Meeren selbst nur 1,2 Millionen alteingesessene Einwohner. Eine Mammutaufgabe. 

Die Mutter hatte als Ehefrau eines begüterten Kaufmanns keinen Beruf erlernt, nun muß sie die kleine Familie ernähren, beginnt bei der Post zu arbeiten. „Junge, sagte sie zu mir, ich kann dir nur eine gute Schulausbildung finanzieren.“ Damals kostet der Schulbesuch noch Geld – Edmund wird im Katharineum aufgenommen. „Hier ging sogar Thomas Mann zur Schule. Er hatte sein Abitur allerdings nicht bestanden, war an Englisch und Französisch gescheitert, darunter litt er lebenslang. Obwohl er später diese Sprachen hervorragend beherrschte. Bei einem Besuch in der Schule, riet er uns Schüler, wir sollten seinen ‘Zauberberg’ lesen – den hat er ja seitenlang auf französisch geschrieben.“

Ferner muß umziehen, seine Mutter wird nach Hamburg versetzt. Auf der Brecht-Schule macht er das Abitur. Manns Lebenstip nimmt er sich zu Herzen und geht ins Ausland, Griechenland und Frankreich. Er lernt Französisch, wird Koch, arbeitet als Kellner und an der Hotelrezeption. Zurück in Lübeck studiert er Französisch, Geographie und Geschichte, jobbt beim Marzipan-Hersteller Niederegger und wird Realschuloberlehrer auf Fehmarn. „Und die ganze Zeit habe ich mich gekümmert um unser Ostpreußen.“ Er engagiert sich in zahlreichen Ehrenämtern, ist Landeskulturwart der Landsmannschaft, organisiert ab 1970 zwölf Reisen nach Frankreich, zwölf nach Ungarn, neun nach Kuba (dort wird er sogar von der Regierung empfangen) und natürlich 14 Reisen nach Ostpreußen. Insgesamt organisiert er unter dem Motto „Mit Ostpreußen unterwegs“ 72 Reisen fast rund um die Welt. Die Frucht dieser Arbeit kann er am 17. Juni 1981 ernten.

Grußwort des Bundespräsidenten und Abordnung der Marine

Wenn man sich alte Zeitungsartikel über diesen Tag, den Tag der Deutschen Einheit vor vierzig Jahren, anschaut, glaubt man auf einem fernen Stern zu sitzen. An dem Tag wurde in der Stadt Burg die Gedenkstätte für alle Deutschen aus den Ostgebieten feierlich eingeweiht. Über eintausend Flüchtlinge und Vertriebene kamen aus dem gesamten Bundesgebiet. Ein Grußwort des Bundespräsidenten Karl Carstens wurde verlesen. Die Bundesmarine hatte Ehrenabordnungen geschickt. Der Bundesgrenzschutz, Ringreitervereine, Traditionsvereine, die auf Fehmarn mächtige Vetterschaft Mackeprang-Witt waren vor Ort, zeigten ihre Verbundenheit mit den deutschen Ostgebieten und ihren Menschen. Heute wäre das unmöglich – wenn überhaupt, gäbe es bösartige und hämische Proteste der Antifa.

Apropos Antifa: Wurden die Gedenksteine schon geschändet? „Einmal“, sagt Ferner. „Aber das wurde aufgeklärt. Ein Oberschüler hatte sie beschmutzt. Den Eltern war das unendlich peinlich. Ihr Sohn sei vom Geschichtslehrer aufgehetzt worden. Sie spendeten uns 1.000 Euro.“ Um die Steine macht sich Ferner wenig Sorgen. „Da sitzen oft junge Menschen rum, die passen schon gut auf sie auf. Überhaupt“, sagt er, „die Granitsteine sind für die Ewigkeit.“