© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/21 / 06. August 2021

Das ist schon lange Normalität
Homeschooling: Bildung wird ins Elternhaus verlagert
Oliver Busch

Als Folge der Corona-Pandemie geriet über Nacht der zuvor nur von Fachpädagogen und Juristen benutzte Terminus „Homeschooling“ zum allgegenwärtigen Schlagwort. Und prägte über Monate hinweg, während die Schulen geschlossen waren und der Unterricht, technisch eher schlecht als recht vermittelt, zu Hause stattfand. Ziemlich einhellig wurde diese erzwungene Unterbrechung des Gewohnten als Übel gebrandmarkt, das für die Masse der Schüler zu immer größeren, nicht mehr zu behebenden Bildungsdefiziten führe, je länger sie dem öffentlichen Unterricht fern blieben.

Diese plötzliche Begeisterung für das seit Jahrzehnten unter kritischem Beschuß stehende, durch gefühlte hundert Reformen zersetzte staatliche Schulwesen kann der emeritierte Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin in seinen „Hinweisen zur Neubewertung der Bildungsorganisation in Deutschland“ kaum ansatzweise teilen (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 97/21). Denn historisch betrachtet, von der Antike bis zum späten 18. Jahrhundert, als in Preußen die Schulpflicht eingeführt wurde, fanden Lebens- und Lernprozesse stets unter elterlicher Obhut statt. Erst Martin Luther wollte das elterliche Recht auf Unterrichtung und Erziehung begrenzen. Er begründete das 1524 damit, daß nur die Alphabetisierung aller Bürger die protestantische Glaubenseinheit garantiere. 

Preußen ersetzte dieses religiös motivierte Bildungsideal durch ein weltliches: Schule diente nun der Förderung der Identifikation mit dem sich formierenden Nationalstaat. Konsequent schrieb daher Artikel 145 der Weimarer Verfassung von 1919 die Schulpflicht für ganz Deutschland fest. Das Grundgesetz hingegen äußert sich nicht dazu, überläßt sie vielmehr den Verfassungen der Länder, die dem Hausunterricht meist ablehnend gegenüberstehen. Immerhin gewährleistet es in Artikel 7 das Recht zur Errichtung privater Schulen und sichert in Artikel 6 Eltern das „natürliche Recht“ zur „Pflege und Erziehung ihrer Kinder“ zu. 

Anders als in der Schweiz, Österreich oder den USA, die 1,5 Millionen „Homeschooler“ zählen, befreit dieses „natürliche Recht“ hierzulande aber nicht von der Schulpflicht. Eltern, die es juristisch durchsetzen wollen, bleiben zumeist erfolglos. Dabei ist ein Hauptargument der Verteidiger der allgemeinen Schulpflicht, mit einheitlich vermittelter Bildung den nationalen und sozialen Zusammenhalt sichern zu wollen, im „Einwanderungsland BRD“ obsolet geworden. Furcht vor der Entstehung von „Parallelgesellschaften“ ausgerechnet durch Heimunterricht könne daher niemand mehr schüren, da sich heute in den Großstädten faktisch bereits eine Segregation nach Stadtteilen mit unterschiedlichem Migrantenanteil in den Schulen darstellt. Faktisch hätten die Eltern durch Hausaufgabenkontrolle und Finanzierung von Nachhilfeunterricht für inzwischen 1,1 Millionen Schüler – „additives Homeschooling“ – ohnehin fast zur Hälfte die Regie über die Bildungsprozesse ihrer Kinder übernommen. 


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