© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

„Wut, Zorn, Widerstand“
60 Jahre Bau der Mauer: Am 13. August 1961 geschah das Unvorstellbare: Die SED zog eine tödliche Mauer quer durch die deutsche Hauptstadt. Der Student Klaus Fleischmann war nicht bereit, das hinzunehmen – er nahm den Kampf auf
Moritz Schwarz

Herr Fleischmann, ist die Mauer nur noch Geschichte?

Klaus Fleischmann: Nein, Sie vergessen, daß sie für alle Deutschen, die sie noch erlebt haben, Teil ihres Lebens ist. Ihre Reste in Berlin oder an der ehemaligen innerdeutschen Grenze sind für uns nicht nur historische Relikte, sondern Trümmer eines zerborstenen Instruments der Unterdrückung, ein starkes Symbol. Ich erinnere mich auch nicht nur jetzt an den Jahrestag, sondern immer wieder an die Ereignisse damals – wobei sie natürlich auf besondere Weise in meine Lebensgeschichte verwoben sind.

Inwiefern?

Fleischmann: In der Zeit nach dem Mauerbau im August 1961 gab es den Aufruf: „Jeder Student einmal nach West-Berlin!“ So sollte Solidarität mit der damaligen Frontstadt gegen das kommunistische Regime in Mitteldeutschland gezeigt und gelebt werden. Dem bin ich – ich studierte in Hamburg – umgehend gefolgt und habe mich an der Freien Universität in Berlin-Dahlem immatrikuliert. Ich muß hinzufügen, daß ich als Arztsohn aus einem bildungsbürgerlichen, christlich-nationalbewußten Elternhaus kam, in dem über Politik und Geschichte diskutiert wurde. Übrigens ein Elternhaus mit einer gewissen Distanz zur Zeit vor 1945. Mein Großvater hatte nach 1933, als geflaggt werden mußte, allein die kaiserliche Flagge Schwarz-Weiß-Rot aus dem Fenster gehängt, nicht die Hakenkreuzfahne, was zu seiner Verhaftung führte. Mein Vater und mein Onkel hatten ihre liebe Not, ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Überhaupt war ein lebendiges Nationalbewußtsein 1961 in Deutschland noch üblich. Die deutsche Einheit, sprich die Ablehnung der Dreiteilung – also sowohl der polnisch-sowjetischen Verwaltung in Ostdeutschland wie der DDR-Diktatur in Mitteldeutschland – war fast allgemein Konsens. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur einen Bekannten, Mitschüler, Kommilitonen, Lehrer oder Dozenten gehabt zu haben, der gegen Deutschland gehetzt hätte. Wer so dachte, war damals wirklich noch ein Außenseiter. 

Wie war es, als Sie am 13. August 1961 vom Bau der Mauer erfuhren?

Fleischmann: Völlig überraschend! Ich war auf einer Auslandsreise und wie vom Donner gerührt, als ich davon erfuhr. Ich erinnere mich, daß ich es vor allem schlicht nicht fassen konnte, so absurd und unmöglich erschien es. Dann kamen mir Wut und Zorn und ein Widerstandsreflex, das auf keinen Fall hinzunehmen, sondern etwas dagegen tun zu wollen – wenn ich auch nicht wußte was. Meine Reisegruppe diskutierte auch, ob es Krieg gäbe. Was aber, da war ich mir sicher, nicht geschehen würde. 

Warum nicht?

Fleischmann: Weil ich genug politische Bildung hatte, mir keine Illusionen über die Westmächte zu machen, denen es natürlich nicht nur um Demokratie und die Freiheit der Deutschen ging. Auch wenn sich das viele Deutsche damals nicht vorstellen konnten, die die Unterstützung der USA für die Bundesrepublik und West-Berlin persönlich nahmen und nicht verstanden, daß bloßes Eigeninteresse dahinterstand – und nicht Freundschaft und Liebe zur Freiheit, wie das Präsident John F. Kennedy bei seiner „Ich bin ein Berliner“-Rede 1963 dargestellt hat, die ich vor dem Schöneberger Rathaus miterlebt habe. Tatsächlich waren die Interessen der Westmächte vom Bau der Mauer gar nicht berührt. Im Gegenteil, für sie bedeutet es eine erfreuliche Stabilisierung der Lage, war die innerdeutsche Grenze damals doch eine heiße Front im Kalten Krieg, wo es immer wieder zu gefährlichen Zwischenfällen kam. Und natürlich war das Letzte, was die Amerikaner tun würden, für die Deutschen in den Krieg zu ziehen. Nein, ich glaubte damals, diese Mauer würde aus ganz anderen Gründen bald wieder verschwinden: eben weil sie absurd war, man ein Land und Volk nicht einfach teilen kann, die Deutschen auf beiden Seiten das niemals akzeptieren würden. Ich realisierte erst später, wie sehr ich mich täuschte und wie sehr ich auch den Terror- und Einschüchterungsapparat der SED unterschätzt hatte. 

Waren „Wut, Zorn und Widerstandsreflex“, von denen Sie eben sprachen, der Grund, Fluchthelfer zu werden? 

Fleischmann: Indirekt sicher, doch kam mir dieser Gedanke erst, als ich in Berlin über Kommilitonen in Kontakt mit solchen Kreisen kam. 

Wie lernte man solche Leute kennen? 

Fleischmann: Die politisch Bewußten unter den Studenten fanden sich natürlich, auch weil ich Mitglied des parteipolitisch neutralen, aber patriotisch ausgerichteten VDSt, Verein Deutscher Studenten,  war und bis heute noch bin. Und so hat mich einige Monate nach meiner Ankunft in Berlin 1962 das erstemal ein Kommilitone in etwa dieser Art angesprochen: Man kenne da „jemanden“, der mache „etwas“, ob ich bereit wäre, zu „helfen“. Ja, natürlich war ich das!

Was bedeutete das konkret?

Fleischmann: Menschen mit Hilfe gefälschter Dokumente aus Ost-Berlin herauszuschleusen. 

Das hieß, sich mit der DDR-Grenzpolizei und der Stasi anzulegen. Hatten Sie keine Angst? 

Fleischmann: Ich war jung und verdrängte die Gefahr zu Beginn wohl. Dazu kam der Wunsch, zurückzuschlagen, ihnen eins auszuwischen, zu zeigen: Mit uns könnt ihr das nicht machen! Außerdem das Gefühl, etwas unzweifelhaft Gutes und Richtiges zu tun sowie Menschen zu helfen, die in Not waren und Hilfe brauchten, und schließlich, um ehrlich zu sein, auch etwas Lust am Abenteuer.    

Wie ging das vor sich?

Fleischmann: Wir schmuggelten gefälschte Pässe nach Ost-Berlin, mit denen die Flüchtlinge dann „legal“ ausreisten. 

Wer waren diese Leute? 

Fleischmann: Das weiß ich nicht und sollte ich auch nicht wissen. Ich kannte weder die Flüchtlinge noch unsere Verbindungsleute in Ost-Berlin, die sie instruierten. Manchmal auch nicht jene, die ihre Pässe zur Verfügung stellten, oder jene, die sie manipulierten, etwa durch Austauschen der Lichtbilder. So konnte ich auch kaum jemanden verraten, wäre ich geschnappt worden. Ich kannte nur den Ort, wo ich den Paß, den ich durch die Kontrolle der Berliner Sektorengrenze zu schmuggeln hatte, übergeben sollte sowie das Erkennungszeichen des Flüchtlings, der dort auf mich wartete. Wir wechselten dann auch nur wenige Worte, erledigten die Übergabe und trennten uns wieder, um unabhängig voneinander nach West-Berlin zu fahren beziehungsweise zurückzufahren. Froh, es geschafft zu haben, ohne entdeckt worden zu sein! 

Und das funktionierte so dezentral? 

Fleischmann: Zunächst ja, weil die DDR noch nichts ahnte, täglich viele Menschen die Sektorengrenze passierten und es noch keine vernetzten Computer gab, so daß sie nicht merkten, wenn einer mehr ausreiste, als eingereist war.

Aber jeder der vielen Beteiligten bedeutete doch eine Person mehr, die geschnappt oder gekauft zum Verräter werden konnte. Und wenn Sie die meisten gar nicht kannten, dann wußten Sie doch auch nicht, wie ehrlich und zuverlässig jene waren, von denen auch Ihr Schicksal abhing. 

Fleischmann: Stimmt, doch klappte es. Aber natürlich realisierte die DDR irgendwann, was lief, und ergriff Gegenmaßnahmen. Worauf auch wir reagierten. Bis sie auch dahinter kamen und erneut nachlegten. Damit wuchs jedoch die Gefahr und die Angst, erwischt zu werden. Einmal, 1963, forderte man mich nach dem Grenzübertritt plötzlich auf, „mitzukommen“. Mir wurde ganz anders, und das um so mehr, je länger es durch ein immer unheimlicheres Gewirr von Gängen unter dem Bahnhof Friedrichstraße ging. Bis in einen Verhörraum, in dem ich zu meinem Erstaunen aufgefordert wurde, mich auszuziehen. Dann ließen sie mich zwei Stunden schmoren, alleine in diesem „Kellergrab“, schlotternd in nichts als der Unterhose, während mir alles mögliche durch den Kopf ging. Doch zu meiner unendlichen Erleichterung hieß es dann plötzlich: Anziehen, alles in Ordnung! Offenbar war ich nur routinemäßig kontrolliert worden. Dennoch, das war wie ein Warnschuß! Ein anderes mal mußte ich eigentlich nur eine mündliche Nachricht überbringen. Die Adresse war aber im hintersten Winkel der Stadt an der Grenze zur Ost-Zone und die Abendfahrt mit der S-Bahn dorthin entwickelte sich zur Nervenprobe, weil immer mehr Menschen ausstiegen, bis ich fast alleine war. Ich kämpfte mit der Vorstellung, jetzt kontrolliert zu werden und mit dem Empfinden, immer tiefer im immer dunkler werdenden Ost-Berlin quasi zu verschwinden – immer weiter weg vom hellen, rettenden Westen. Schließlich kam die Endstation, an der ich aussteigen mußte. Es ging dann alles gut – und dennoch kann ich das Gefühl kaum beschreiben, als ich endlich aus dem dunkelsten Dunkel zurück am Bahnhof Friedrichstraße ankam und hinüber nach West-Berlin fuhr. 

Wie hält man das aus? 

Fleischmann: Natürlich war das alles sehr belastend und vor mancher Aktion konnte ich kaum schlafen, zumal auch Leute von uns geschnappt wurden. Doch wir wußten, es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den Kampf fortzusetzen, weil die Menschen dort unsere Hilfe brauchten. Und bei aller Angst, man lernt auch mit so einer Situation zu leben. Allerdings begann ich, die Grenze wann immer möglich zu meiden. Besuchte ich in den Semesterferien meine Familie im Rheinland, nahm ich nicht mehr die Bahn, was DDR-Kontrollen und Angst, bis der Zug die Bundesrepublik erreichte, bedeutete, sondern nur noch das Flugzeug, das mich von West-Berlin direkt nach West-Deutschland brachte. Und ich muß zugeben – heute vielleicht sogar mehr als damals – wird mir ganz anders, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. Dabei gab es Fluchthelfer, die noch viel mehr riskierten als ich, etwa mein Freund Burkhart Veigel, der Menschen in Autos über die Grenze schleuste und den die Stasi umzubringen versuchte. Oder einer unserer wichtigen Unterstützer aus dem Westen, der auf offener Straße ermordet wurde. Offiziell ein Raubüberfall, wir vermuten bis heute aber die Stasi dahinter – ohne es jedoch beweisen zu können, da die Tat auf einer Reise in Leipzig geschah und somit nicht untersucht werden konnte.  

Um 1964 war das Schleusen per falschem Paß so gefährlich geworden, daß die Fluchthelfer auf neue Methoden wie Menschenschmuggel in Geheimfächern in umgebauten Autos oder Tunnelgraben umsteigen mußten. Warum haben Sie sich daran nicht beteiligt? 

Fleischmann: Ich hatte kein Auto und auch keine finanziellen Mittel dafür und mußte mich zudem auf mein Studium konzentrieren. Wir, ein VDSt-Bundesbruder und ich, entschieden uns, statt Flüchtlinge aus, Literatur in die DDR zu schleusen. Informanten überbrachten Wunschlisten mit verbotenen oder nicht erhältlichen Büchern. Wir besorgten sie und schafften die Pakete heimlich über die Grenze, wo sie von Kontaktleuten empfangen und die Bücher an die jeweiligen Besteller weiterverteilt wurden. 1966 aber ging mein Studium zu Ende und ich bekam als angehender Lehrer eine Referendariatsstelle in Bad Münstereifel im Westen. Später habe ich mich in der IGFM, der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, weiter für Verfolgte und Dissidenten in der DDR und der UdSSR eingesetzt.

Haben Sie je einen der Menschen, denen Sie zur Flucht verholfen haben, später einmal wiedergesehen? 

Fleischmann: Nein, nie. Für uns verschwanden sie alle nach ihrer Flucht im Nirgendwo.   

Anfangs, und auch heute wieder, gelten Fluchthelfer als Helden. Doch das war nicht immer so, sagen Sie.

Fleischmann: Ja, das stimmt. Denn zum Beispiel hatte damals der von der Stasi unternommene Versuch Erfolg, mit Hilfe der linken Parteien und Medien im Westen die Fluchthelfer zu diskreditieren: Sie seien Menschenhändler, ohne politische oder humanitäre Motive, die nur verdienen wollten. Nun, das war eine gemeine Lüge, denn wir Fluchthelfer waren keine NGOs, die vom Staat alimentiert wurden. 

Gab es Fluchthelfer, die versuchten, zu verdienen? 

Fleischmann: Mir ist keiner bekannt, der davon profitiert hätte. Aber die Verunglimpfungen – auch etwa, die Fluchthelfer störten das Verhältnis zur DDR – zeigten ab etwa 1966  Wirkung, als sich die Meinung der Öffentlichkeit gegen die Fluchthelfer zu wenden begann. Das hat etliche, auch mich, abgeschreckt. Denn wenn man alles riskiert und dann signalisiert bekommt, man sei unerwünscht, dann ist das enorm demotivierend.  Und ich glaube, daß etliche der Studenten, die ab 1967/68 auf die Straße gingen, um zu protestieren, das auch aus diesem Grund taten – aus Enttäuschung über solches Verhalten von Politik, Medien und Öffentlichkeit im Westen. 

Waren die Motive der Studenten nicht der SchahBesuch, der Ohnesorg-Mord oder der Vietnamkrieg? 

Fleischmann: Sicher, aber ich glaube, dem ging eine Grundenttäuschung über die Etablierten voraus, die – nicht alleine, aber auch – hierin eine Ursache hatte: Das Sichabfinden mit der Mauer und der Unfreiheit dahinter und das zunehmende Vergessen der eigenen Landsleute dort – trotz der zu Beginn gezeigten großen moralischen Empörung über den Mauerbau – offenbarte eine bürgerliche Doppelmoral, die zu einer ersten Entfremdung vieler Studenten führte. Wie sehr die Fluchthelfer damals zum Teil angefeindet wurden, ist heute schon fast wieder vergessen, denn nach dem Mauerfall 1989 hat sich ihr Ansehen erneut gewandelt: Nun waren sie wieder Helden. Doch nur, weil man im Westen das schändliche Kapitel vergessen wollte, wie sehr man sich mit der Mauer abgefunden hatte, wie weitgehend Teile der etablierten Gesellschaft gegenüber der Herausforderung, die die Mauer darstellte, versagt und wie viele Politiker, Intellektuelle und Bürger sie akzeptiert hatten, und statt ihrer über Jahre ihre Gegner angriffen haben. Daran wollte keiner erinnert werden, und es entstand die Legende – von der die Fluchthelfer unfreiwillig, aber zu Recht profitierten –, die Mauer sei immer als unerträgliche Realität betrachtet worden, gegen die im Westen alle stets aufrecht gekämpft hätten. Aber das ist nicht die historische Wahrheit!          






Klaus Fleischmann, studierte Germanistik und Geschichte sowie Theologie in Hamburg und Berlin. Geboren 1938 in Naugard bei Stettin, Pommern, vertrieben Ende Januar 1945, wuchs der spätere Gymnasiallehrer bei Jülich in Nordrhein-Westfalen auf. Er lehrte Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Politik in Bad Münstereifel, Meckenheim, im belgischen Bergen (Mons) und in Neuss am Rhein. 

Foto: Errichtung der Mauer in Berlin (Bernauer Straße): „Der Wunsch, zurückzuschlagen, ihnen zu zeigen: Mit uns könnt ihr das nicht machen!“