© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Die Mehrheit bleibt zu Hause
Frankreich: Hunderttausende gehen gegen die Corona-Politik der Regierung auf die Straße
Friedrich-Thorsten Müller

Mit 237.000 Teilnehmern erreichten die Proteste gegen die französische Corona-Politik nach Angaben des Innenministeriums am Samstag einen neuen Rekordwert. Das vierte Wochenende in Folge demonstrierten Bürger landesweit gegen die Einführung des „Gesundheitspasses“ und gegen die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie bei den Feuerwehren. Vor allem in Südfrankreich, wo die Corona-Inzidenz in manchen Regionen, wie auf Korsika, mit 600 weit über dem Landesschnitt von 230 liegt, gingen die Menschen auf die Straßen. In Toulon waren es mit 19.000 sogar mehr als in Paris, wo 17.000 Bürger demonstrierten. Hauptgrund dafür sind die im Süden mancherorts bereits spürbaren erneuten Einschränkungen, wie Maskenpflicht im Freien und verkürzte Ladenöffnungszeiten, die auch Geimpfte betreffen.

Es ist nicht nur die Corona-Krise, die Präsident Macron quält

Die Proteste vom Wochenende standen vor allem unter dem Eindruck der Absegnung des „Gesundheitspasses“ durch den Verfassungsrat am vergangenen Donnerstag. Nachdem die Nationalversammlung das dazugehörige Gesetz bereits im Juli verabschiedet hatte, konnte es damit an diesem Montag in Kraft treten.

Allen Protesten zum Trotz scheint aber eine große Mehrheit der Franzosen hinter der neuen Corona-Gesetzgebung zu stehen. Laut einer Mitte Juli von der Agentur Odoxa-Backbone für Le Figaro durchgeführten Umfrage sind 75 Prozent der Bürger für den Impfzwang bei Angestellten des Gesundheitswesens. Sechs von zehn Bürgern befürworten darüber hinaus die Verpflichtung, künftig dauerhaft für die Nutzung von Freizeiteinrichtungen, der Fernverkehr und Gaststätten entweder eine Impfung oder einen negativen Corona-Test vorweisen zu müssen. Auch sind 61 Prozent der Befragten dafür, daß PCR-Tests ohne medizinische Anordnung künftig nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden sollen. Sogar 62 Prozent der Franzosen halten Macrons aktuelle Corona-Politik insgesamt für zielführend. 

Wie eine andere Umfrage von Ifop für das Journal du Dimanche hervorbrachte, ist allerdings die Lage für Frankreichs Rechte weitaus unübersichtlicher. Während lediglich 35 Prozent der Franzosen angeben, den Anti-„Gesundheitspaß“-Demonstrationen positiv gegenüberzustehen, sind es bei den Wählern des Rassemblement National (RN) immerhin 49 Prozent. RN-Abtrünnige wie Florian Philippot versuchen Kapital daraus zu schlagen, daß Marine Le Pen in der Corona-Politik eine Gratwanderung versucht. 

Denn einerseits verteidigt sie bürgerliche Freiheiten, andererseits zieht es die übrigens selbst zweifach Geimpfte vor, mit Blick auf die Präsidentschaftswahl nächstes Jahr bei den Gemäßigten zu punkten. Immerhin nimmt sie aber hin, daß RN-Mandatsträger wie Frédéric Boccaletti oder Amaury Navarranne offiziell an Anti-„Gesundheitspaß“-Demonstrationen teilnehmen.

Präsident Emmanuel Macron hofft indes mit der neuen Gesetzgebung für die Präsidentschaftswahl im kommenden April den Rücken frei zu bekommen. Wie schon bei den „Gelbwesten“-Protesten ließ er die Regierung unmittelbar vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes etwas Entgegenkommen zeigen. Gesundheitsminister Olivier Véran verlängerte die Gültigkeit der Tests von 48 auf 72 Stunden und erlaubte auch Selbsttests unter medizinischer Aufsicht. 

Ob dies reicht, um das Land zu befrieden, ist fraglich, denn das Land steckt in einer tiefen fianziellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Krise. Allein die Perspektivlosigkeit der Jugend spiegelt sich in einer Jugendarbeitslosigkeit von etwa 20 Prozent. 

Während der erste Tag unter der neuen Gesetzgebung mit den Kontrollen im Fernverkehr weitgehend reibungslos verlief, kündigten die zwei Medizinpersonalgewerkschaften massive Streiks von Pflegekräften an. Auch die „Gelbwesten“ planen für die Zeit nach den Ferien neue Demonstrationen.

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Foto: Anti-Gesundheitspaß-Protest in Toulon: „Mehr Freiheit“ statt Maskenpflicht im Freien