© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Eine explosive Mischung
Italien und die illegale Migration: Medien sprechen vom größten Desaster, in dem sich das Land seit 2017 befindet
Marco F. Gallina

Knapp 30.000 Anlandungen seit Jahresbeginn, mehr als 8.600 allein im Juli: Zahlen, die das Migrationsgeschehen im Mittelmeer deutlich illustrieren. Am vergangenen Wochenende legte die „Ocean Viking“ mit 549 Menschen im sizilianischen Hafen Pozzallo an. Die Behörden ließen nur medizinische Notfälle sowie Familien und unbegleitete Minderjährige an Land. Am Montag mittag waren noch über 400 Personen an Bord. Ihr Herkunftsland ist größtenteils Nigeria. Die Ausschiffung zieht sich wegen Corona-Testung und Quarantäne hin. 

Am 6. August legte zudem die „Sea Watch 3“ unter dem Kommando von Carola Rackete in Trapani an – mit 257 Migranten. Beide Schiffe mußten tagelang warten, bis ihnen ein Hafen zugewiesen wurde. Lampedusa, Italiens insulares Auffangbecken, quillt über. Rund 1.000 Migranten teilen sich dort 250 der verfügbaren Plätze. Hatten die Staaten der Europäischen Union im Abkommen von Malta den Mittelmeerstaaten doch versprochen, ankommende Migranten auf dem Kontinent „fair“ zu verteilen, so sind von diesen bisher nur zwei Prozent anderen Unterzeichnern – darunter Deutschland – zugeteilt worden.

Ein dringender Appell Roms an Norwegen verhallte 

Diese explosive Mischung hat in der italienischen Öffentlichkeit für Unmut gesorgt. Medien sprechen vom größten Desaster seit 2017. Damals hatte der sozialdemokratische Innenminister Marco Minniti eine scharfe Kursänderung in der Linksregierung von Paolo Gentiloni durchgeboxt. Nach über 11.000 Ankünften im Juli 2017 hatte Minniti einen „NGO Code“ für Seenotretter erlassen, mit der libyschen Einheitsregierung verhandelt und damit die Zahlen wieder drastisch gesenkt. 

Minniti leistete damit Vorarbeit, auf der sein Nachfolger Matteo Salvini aufbaute. Der Lega-Chef meldete sich in der vergangenen Woche mit einem Ultimatum. „Ich habe Draghi geschrieben und ihm gesagt, daß das Problem der Migrantenlandungen bis Ende August gelöst werden muß“, teilte der gebürtige Mailänder mit. „Wenn Innenministerin Lamorgese nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen, sollte sie dies zur Kenntnis nehmen und die Konsequenzen ziehen. Sie sollte etwas tun, um diese Massenankünfte zu stoppen. Für die Lega wäre es ein Problem, eine Regierung zu unterstützen, die diese Zahl von Migrantenankünften akzeptiert.“

Der Vorstoß folgt einer zweifachen Logik. Die Lega muß ihr Kerngeschäft bedienen – insbesondere als Teil einer Regierung, in der sie als wichtiger Stützpfeiler dient. Premierminister Mario Draghi soll in ständigem Kontakt zu Salvini stehen und ein offenes Ohr für dessen Anliegen haben, wie der Staatssekretär des Innenministeriums, Nicola Molteni, in einem Interview betonte. 

Molteni ist Salvinis verlängerter Arm in jenem Ministerium, das ihm einst unterstand – und wo die Lega auch andere Dienststellen übernahm. Molteni vertraut darauf, daß das alte Netzwerk Draghis in der Europäischen Union helfen könne, die anderen Mitgliedsstaaten der EU an ihre Verpflichtungen zu erinnern. In der EU herrsche eine „Scheinheiligkeit“, die auch von linksregierten Ländern wie Dänemark ausginge: dort spreche man von Integration und Aufnahme, externalisiere aber die Aufnahmegesuche aus Ruanda und delegiere sie. 

Daß die Länder, unter deren Flagge die norwegische „Ocean Viking“ und die deutsche „Sea Watch 3“ fahren, keinen Druck machen, wird bereits seit einiger Zeit in Italien mit Ärger beobachtet. Ein Appell Italiens an Norwegen verhallte; Oslo stellte sich auf den Standpunkt, daß eine „proaktivere“ Haltung „schwierig“ sei – aufgrund der öffentlichen Meinung im Land.

Andererseits weiß Salvini darum, daß die Unterstützung der strengen Covid-Maßnahmen, namentlich des „Grünen Passes“, in der eigenen Wählerschaft für Unmut sorgt. Die Lega unterstreicht, daß sie im Gegenzug die Staatsbürgerschaft nach Geburtsort („ius soli“) statt nach Abstammung verhindert und das Anti-Homophobie-Gesetz („DDL Zan“) zumindest verzögert habe – was ohne Regierungsbeteiligung nicht möglich gewesen wäre. Der „Capitano“ muß daher seine Mannschaft mit anderen Wahlgeschenken bei Laune halten. Das Ultimatum dürfte damit eine der typischen „Ich gebe, damit du gibst“-Geschäfte in der italienischen Politik sein.

Außenminister Luigi Di Maio reiste indes nach Libyen. Es war der bisher fünfte Besuch im südlichen Mittelmeeranrainer. Er versicherte die weitere Beteiligung Italiens an der Stabilisierung des Landes, in dem im Dezember Wahlen angesetzt sind, und eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen „Migration, Gesundheit und Kultur“. 

Draghi telefonierte mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied, um diesem seine Unterstützung bei der Bewältigung der Migrationskrise zuzusichern. So ließ Italien dem nordafrikanischen Land als Hilfeleistung 1,5 Millionen Impfdosen und andere Hilfsgüter zukommen. Offensichtlich verspricht sich Italien mehr von den afrikanischen als den europäischen Kontakten.