© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Helikoptergeld für alle
EZB-Politik: Umgestaltung hin zur „fiskalischen Dominanz“ / Alternative zu Anleihekäufen?
Dirk Meyer

Im Juli stieg die Inflation in der Eurozone von 1,9 auf 2,2 Prozent. Hauptgrund waren laut Eurostat die Energiepreise: Sie stiegen um 14,1 Prozent im Vergleich zu Juli 2020. Lebensmittel, Alkohol und Tabak wurden hingegen im Schnitt nur um 1,6 Prozent und Dienstleistungen nur um 0,9 Prozent teurer. Das ist nicht nur der Corona-Krise, Lieferengpässen oder steigenden Rohstoffpreisen geschuldet (JF 30/21). Die EZB versucht seit 2015 mit Anleiheankäufen die Inflationsrate in die Höhe von zwei Prozent zu bringen. Damit soll ein hinreichender Spielraum gegen eine aus ihrer Sicht gefährliche deflationäre Preisentwicklung geschaffen werden.

Allerdings lag die Preissteigerung seit 2015 zu über 90 Prozent unter zwei Prozent – obwohl sie Staatsanleihen im Umfang von 2.954 Milliarden Euro (42,3 Prozent ihrer Bilanzsumme) aufgekauft hat und damit Ende 2020 26,5 Prozent der Staatsschulden aller 19 Euro-Mitgliedstaaten. De facto hat sie sich damit abhängig gemacht, denn ein Verkauf dieser Bestände dürfte bei einem Anstieg der Zinsen in ihrer Bilanz wie auch bei den Geschäftsbanken zu hohen Verlusten führen und die zukünftige Kreditaufnahme der Krisenstaaten am freien Markt unmöglich machen. Man spricht deshalb von „fiskalischer Dominanz“ – die EZB muß die Staaten liquide halten.

Aus Frankreich kommt nun eine ausgefallene Alternative: Die Ökonomen Philippe Martin, Éric Monnet und Xavier Ragot schlagen eine unkonventionelle Inflationssteuerung vor, die auf einer Idee des US-Ökonomen Milton Friedman beruht. In einem Gedankenexperiment stellte der spätere Nobelpreisträger 1969 die Frage, welchen Effekt es haben würde, wenn eine Notenbank das von ihr gedruckte Geld aus einem Helikopter über bewohntes Gebiet abwerfen würde. In der heutigen Praxis würde die EZB jedem Bürger einen bestimmten Beitrag überweisen.

Wie kommt das viele Geld bei zu hoher Inflation wieder zurück?

Dadurch, daß alle das geschenkte Geld annahmegemäß sofort ausgeben, steigen die Nachfrage und damit auch die Preise. Um die Inflation um einen Prozentpunkt zu erhöhen, benötige man lediglich einen Nachfrageimpuls, der das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um zwei Prozent ansteigen läßt. Wie groß müßte ein entsprechender Scheck für die Bürger sein? Eine eigene näherungsweise Berechnung geht von folgender Überlegung aus: Jeder von der EZB ausgegebene Euro wird pro Jahr für verschiedene Käufe zur Bezahlung genutzt. Je höher diese sogenannte Geldumlaufgeschwindigkeit, mit desto weniger Geld kann man den Anstieg der Nachfrage „finanzieren“.

Zur Zeit ist diese Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in der Pandemie infolge eines erhöhten Sparverhaltens stark abgesunken. Wurde vor der Pandemie jeder Euro pro Jahr 1,4mal ausgegeben, so geschieht dies jetzt nur noch 1,1mal. Das Geld zirkuliert also seltener zwischen den Konsumenten und Unternehmen. Um Inflation zu erzeugen, muß die EZB also mehr tun. Im Ergebnis müßte die Notenbank etwa 600 Euro als „Helikoptergeld“ einmalig an jeden Bürger überweisen, um die Inflation in der Eurozone um einen Prozentpunkt zu erhöhen. Das klingt zunächst einmal wirksamer als die Staatsanleihekäufe im Umfang von etwa 30 Prozent des Euroraum-BIP. Zudem kann die EZB eine Feinsteuerung vornehmen und den Betrag erhöhen, sollte die angestrebte Inflationsrate von zwei Prozent nicht erreicht werden. Philippe Martin, Professor am Pariser Institut für Politische Studien, berät als Präsident des Conseil d’analyse économique (CAE) den Premier und gilt als einer der einflußreichsten französischen Wirtschaftswissenschaftler. Der „Helikoptergeld“-Vorschlag ist also ernst zu nehmen. Doch die scheinbar überzeugende Theorie hat einige Probleme und Nebenwirkungen. Zunächst setzt der relativ hohe Wirkungsgrad des Zusatzgeldes eine weitgehend ausgelastete Wirtschaft voraus, um inflationär zu wirken.

Sodann wird das Zusatzgeld in Corona-Zeiten nicht sofort ausgegeben, sondern aufgrund von verhindertem Konsum (erschwertes Reisen, Ausfall von Kulturveranstaltungen) oder aus Vorsicht gespart. So ist die Sparquote, also der gesparte Anteil am Einkommen, in Deutschland im ersten Quartal 2021 auf den Rekordwert von 23,2 Prozent gestiegen. Zudem verbleibt nicht jeder verausgabte Euro im Euroraum. Von 100 Euro gehen 29,70 Euro ins Euro-Ausland. Dies halbiert die Wirkung des „Helikoptergeldes“ – oder andersherum: Die Überweisung für den gleichen Inflationseffekt müßte verdoppelt werden.

Wohl keine Lösung im Sinne eines zeitnahen Konsums bieten EZB-Prepay-Karten mit einem Verfallsdatum, denn diese könnten den Normalkonsum ersetzen. „Helikoptergeld“ an sich ist immer mit einer Umverteilung verbunden, denn mit der Kopfpauschale werden Einkommensschwache relativ mehr begünstigt. Der EZB fehlt hierzu aber das Mandat. Darüber hinaus kann die Notenbank im Falle einer überschießenden Inflation das Geld nicht ohne Weiteres wieder einsammeln. Hierzu müßten die Finanzminister der Eurostaaten eine „Inflationssteuer“ erheben und diese Einnahmen auf Konten der EZB dauerhaft hinterlegen. Zunächst als „arbeitsloses“ Einkommen mit leistungsmindernden Anreizen genossen, würde jetzt scheinbar grundlos fiskalisch enteignet. Die Bürger wären kaum begeistert.

Ein wesentlicher, erfahrungsbedingter Einwand resultiert aus der derzeit vorherrschenden und teils nach EU-Recht fragwürdigen „fiskalischen Dominanz“ der Euro-Finanzminister und der EU-Kommission, die die EZB in die Dienste der insbesondere finanziell klammen Staaten stellen. Mit dem „Helikoptergeld“ verschwimmen die Grenzen der Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank mit der Fiskalpolitik der Staaten. Zum einen könnten sie das Zusatzgeld wegsteuern und damit indirekt eine von der Notenbank unterstützte monetäre Staatsfinanzierung vornehmen.

Zum anderen könnte das „Helikoptergeld“ direkt an die Finanzminister gehen – das wäre die reine Variante einer monetären Staatsfinanzierung gemäß der Modern Monetary Theory (MMT; JF 49/19). Doch bereits auf dem „Brussels Economic Forum 2021“ deutete EZB-Präsidentin Christine Lagarde zukünftige Entwicklungen an: „Wenn die Pandemie vorüber ist, müssen wir den Schwerpunkt von der Erhaltung der Wirtschaft auf ihre Umgestaltung verlagern.“ Das wäre dann ein wirklich revolutionäres Mandat. Gelten die EU-Verträge für die EZB nicht mehr?






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

„Was kann die Europäische Zentralbank noch tun? (Les notes du conseil d’analyse économique 65/21): cae-eco.fr