© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

„Jeder Kilometer Gleis ist Klimaschutz“
Verkehrspolitik: Die Bahn will 20 stillgelegte Strecken reaktivieren / Viel zu wenig Elektrifizierung / Widerstand von Anwohnern
Bernd Rademacher

Jahrzehntelang hat die Deutsche Bahn AG (DB) und zuvor die Bundesbahn den Personenverkehr im ländlichen Raum abgebaut. Aus Bahndämmen wurden Radwege oder Brombeerhecken. Jetzt heißt es: Kehrt marsch! Der Regionalzug soll für Pendler und Landbevölkerung wieder auf die Schiene setzen: Die DB will 20 Strecken mit einer Länge von 245 Kilometern reaktivieren. „Wir wollen mehr Menschen für die Bahn gewinnen, mehr Güter auf die Schiene bringen. Jeder Kilometer Gleis ist aktiver Klimaschutz“, erklärte DB-Netz-Vorstand Jens Bergmann.

Angesichts von einer Länge des DB-Schienennetzes von 33.399 Kilometern scheint das wenig. Zusammen mit Privat-, Stadt- und Industriebahnen sind es etwa 38.500 Kilometer. Und von denen sind nur 20.800 Kilometer elektrifiziert, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags feststellte (WD 5-3000-027/18). Sprich: Auf etwa 17.700 Kilometern „dieselt“ es noch gewaltig – und das mit viel lascheren Abgasnormen als im Pkw-Bereich. Vor allem DB-Chef Hartmut Mehdorn (1999 bis 2009) hielt das deutsche Streckennetz für anachronistisch und übermöbliert. Mehdorn verfügte mit politischer Rückendeckung die radikale Stillegung „unrentabler“ Schienenwege.

Gewaltige Investitionsvolumen für eine alt-neue Infrastruktur

Insgesamt wurden im Zuge der 1994 gestarteten Bahnreform über 5.000 Kilometer Gleis aufgegeben. Die DB sollte damit „fit für den Börsengang“ gemacht werden, da die regionalen „Bimmelbahnen“ keine Rendite, sondern Verluste erwirtschafteten. Das stimmt, denn auch die privaten Regionalzugbetreiber konnten den Verlust der Mobilität in der Fläche nur zum geringen Teil auffangen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Kahlschlag geht es aber nicht mehr um Wirtschaftlichkeit, sondern um eine „grüne Verkehrswende“.

Der Branchenverband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sieht nicht nur für 245 Kilometer Chancen, sondern für gut zehnmal so viele Strecken-Reaktivierungen. Zu den 20 DB-Vorschlägen zählen gleich sechs im Raum Berlin-Potsdam, drei im Ruhrgebiet und zwei bei Hamburg. Aber auch die Darßbahn zwischen Barth und dem Ostseebad Perow in Vorpommern, die Werrabahn zwischen dem thüringischem Eisfeld und Coburg in Oberfranken oder die Strecke zwischen Breisach am Rhein und Kolmar im Elsaß.

Durch die Verlängerung bestehender Linien lassen sich die Fahrgastpotentiale vergrößern, ebenso durch Querverbindungen und Relationen in aufkommensstarken Gebieten. Ein Beispiel dafür ist die vom VDV vorgeschlagene Verbindung Worms-Kaiserslautern. Ein weiteres die Entlastung der stauintensiven Autobahnen A42/A43 durch eine Linie Essen-Wuppertal. Interessant sind solche Verbindungen vor allem, wenn sie durch Lückenschlüsse „Mobilitätsketten“ zu Fernverkehrstrassen bilden.

Neben der DB betreiben auch Anbieter wie Regiobahn oder Bayernbahn die neuen Strecken oder direkt die angebundenen Kommunen wie die im Fall der Stadt Pfullendorf am Bodensee oder der Gemeinde Losheim am See im Saarland. Potentiale für reaktivierte Nahverkehrszüge gibt es nicht nur im Großraum Berlin und NRW, sondern auch zwischen Karlsruhe und Stuttgart sowie in Sachsen-Anhalt, Thüringen und rund um Schwerin. Eine der längsten neuen Regionalverbindungen könnte die rund 80 Kilometer lange Strecke Rheine-Coesfeld-Bocholt im Münsterland werden – doch die DB sieht das anders.

Vor der großen Eisenbahn-Rückkehr liegen große Hürden. Viele Trassen wurden komplett demontiert und bevorzugt zu Radwanderwegen umgebaut, wie die ehemalige Sennebahn in Ostwestfalen oder die Haarstrang-Strecke der Westfälischen Landeseisenbahn im Sauerland. Hunderte alte Bahnhofsgebäude hat man abgerissen oder zu Kulturzentren und Restaurants umgebaut. Neben dem gewaltigen Milliarden-Investitionsvolumen für eine neue Infrastruktur stellen wenig begeisterte Anlieger ebenfalls vielerorts ein Hindernis dar. Der verzögerte Bau der Dresdner Bahn von Berlin-Südkreuz nach Blankenfelde und zum Hauptstadtflughafen BER ist ein Beispiel.

Ein weiteres ist die beschlossene Wiederaufnahme des Personenverkehrs zwischen Münster in Westfalen und dem Vorort Sendenhorst. Das Projekt soll die städtischen Verkehrsadern entlasten, die unter ständig wachsenden Pendlerströmen ächzen, denn hier heißt es morgens und abends: Nichts geht mehr. Doch Anwohner fürchten Lärm und Gefahr für ihre Kinder an den Bahnübergängen und protestieren gegen die Züge. Die Reaktivierung der Höllentalbahn zwischen Blankenstein in Thüringen und Marxgrün in Franken könnte hingegen durch Mops-Fledermäuse verzögert werden. Denn sind erst die Verwaltungsgerichte eingeschaltet, kann das Verfahren jahrelang dauern.

Dirk Flege, Geschäftsführer der „Allianz pro Schiene“, ist daher skeptisch. Die Hürden für weitere Reaktivierungen müßten gesenkt werden: „Die bisherigen Bewertungskriterien ignorieren die sozialen Aspekte einer Schienenanbindung und berücksichtigen zu wenig die Umweltvorteile des Schienenverkehrs.“ Der VDV ist da optimistischer: „Die Entscheidung der DB AG, nach Jahrzehnten des Rückzuges wieder einen Schritt in die Erschließung der Fläche und damit in die Expansion des Netzes zu gehen, ist historisch“, findet VDV-Geschäftsführer Martin Henke. Historisch war aber vor allem die Kurzsichtigkeit, ein leistungsfähiges Transportmittel zugunsten theoretischer Börsengewinne zu opfern.

VDV-Positionspapier „Auf der Agenda: Reaktivierung von Eisenbahnstrecken“:  www.vdv.de