© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Es gilt das Recht des Stärkeren
Normen des Zusammenlebens: Im Nebeneinander unvereinbarer Kulturen wird nichts diskursiv ausgehandelt
Thorsten Hinz

Die Unwetter in Deutschland haben die bürgerkriegsähnlichen Vorgänge in Südafrika weitgehend hinter einem medialen Regenvorhang verschwinden lassen. Die meisten Wortberichte verschwiegen schamhaft, was die Bilder und Filmaufnahmen dann doch verrieten: Die Plünderungen, Brandstiftungen, Morde gingen vor allem auf das Konto von Schwarzafrikanern. Was nicht heißt, daß nicht auch viele Schwarze unter den Übergriffen zu leiden hatten und entsetzt sind über das angerichtete Chaos. Die Polizei, die Staatsgewalt erwies sich als unfähig, überfordert, unterwandert.

Ein Lichtblick während der Herrschaft des Mobs war die Fähigkeit zur Selbstorganisation, der Auftritt von Bürgerwehren, die dem tobenden Pöbel durch Gegengewalt Einhalt geboten. Wie der Schriftsteller Dan Roodt festhielt, „standen eine Minderheit von Weißen und Indern in einer Art ‘indo-europäischer’ Allianz gegen die Zulus zusammen, um ihre Häuser vor Plünderungen zu schützen“.

Als Hauptgrund für die tagelange Abwesenheit von Recht und Gesetz werden die sozialen Probleme und Ungleichheiten genannt. Das ist zweifellos ernst zu nehmen. Doch 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid liegt es in der Verantwortung des seither unumschränkt herrschenden Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), daß keine ökonomischen und sozialen Verbesserungen für die schwarze Bevölkerungsmehrheit erreicht wurden und Korruption, Kriminalität, Gewalt das Land prägen. Im übrigen hat der ANC vom Apartheid-Regime ein vergleichsweise wohlhabendes und gut organisiertes Staatswesen übernommen.

Doch statt sich zum Leuchtturm afrikanischer Prosperität zu entwickeln, schlägt Südafrika den Weg Simbabwes ein, das, als es noch Südrhodesien hieß, die Kornkammer Afrikas war. Eine kleptokratische Politik hat dazu geführt, daß es heute von Hilfslieferungen abhängig ist. Weiße Farmer werden enteignet, ermordet und im Westen als Landräuber verhöhnt. Vor allem aber haben sie das Land bebaut. Die Kultivierung wird nun rückgängig gemacht. Kein in die Unabhängigkeit entlassenes afrikanisches Land hat die postkolonialen Erfolgsgeschichten der Länder Südostasiens mitvollzogen.

Im Zeitalter globaler Medien, der weltweiten „Black Lives Matter“-Bewegung und einer Identitätspolitik mit antiweißer Stoßrichtung in den Ländern des Westens wird die Frage virulent, was es bedeutet, wenn fern in Südafrika politische und soziale Konflikt sich entlang der Rassengrenze mit brachialer Gewalt entladen. Einst wurde der ANC romantisiert und bejubelt. Heute werden die BLM-Exzesse in den USA geradezu liebevoll kommentiert. In Frankreich gleichen Vorstädte einem ethnisch-sozialen Pulverfaß, ebenso in England. Der relative innere Frieden in Deutschland wird durch die großzügige Alimentierung der Zuwanderer erkauft – deren Kehrseite das Auspressen des deutschen Steuerzahlers ist.

Die ehemalige Migrationsbeaufragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz (SPD), machte vor einigen Jahren Schlagzeilen mit der Äußerung: „Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein.“ Das Zusammenleben müsse täglich neu ausgehandelt werden. Das ist gefährlicher Blödsinn. In Südafrika wird das Zusammenleben seit 30 Jahren neu ausgehandelt, mit zerstörerischer Dynamik und entsprechenden Ergebnissen. Was Özoğuz von sich gegeben hat, ist unverdauter, vulgarisierter Habermas. Tatsächlich vertritt der Staatsphilosoph der Bundesrepublik die Auffassung, daß die Normen des Zusammenlebens nicht verfügt, sondern permanent ausgehandelt werden. Allerdings macht er klare und unterhintergehbare Voraussetzungen für die Akteure geltend, etwa ein republikanisches, aufgeklärtes Bewußtsein und den Willen zum Gemeinsinn. Es bedarf also einer vorgeschalteten, relativen Homogenität der Anschauungen und akzeptierten Regeln.

Ein solches Grundvertrauen aber entwickelt sich laut Rolf Peter Sieferle erst in einer langen Generationenabfolge. Das war in der alten Bundesrepublik noch gegeben. Für die kulturellen Unverträglichkeiten, den religiösen Fundamentalismus, die zivilisatorischen Rückstände und die importierte Gewaltaffinität im Zuge der unkontrollierten Masseneinwanderung taugt das Habermas-Modell nicht. Die Vision einer harmonischen „postmigrantischen Gesellschaft“ auf deutschem Boden ist genauso eine Chimäre, ein demagogischer Werbegag wie die südafrikanische „Regenbogennation“, die vor 30 Jahren proklamiert wurde. 

Die Propagandisten der postmigrantischen Gesellschaft treten als Wortführer vermeintlich unterdrückter Minderheiten auf. Sie leugnen nicht völlig die entstandenen Konflikte, sie machen aber für die ausbleibende Konfliktlösung ein „rassistisches“ Bewußtsein im Aufnahmeland verantwortlich, das ohnehin viel „zu weiß“ sei. Damit die Fremden sich weniger fremd fühlen, sollen die Einheimischen ihre lebensweltliche Entfremdung hinnehmen. Die den Rassismus beklagen, sind in der Regel keine afrikanischen Spitzenköche, keine indischstämmigen Herzchirurgen, türkischen Biochemiker oder vietnamesischen Computerfachleute. Die haben nämlich gar keine Zeit für derlei Unfug. Es handelt sich um Leute, die an den Vorzügen, den materiellen wie immateriellen, des Ziellandes teilhaben wollen, ohne befähigt oder willens zu sein, sich ihren fairen Anteil daran zu erarbeiten, indem sie zu ihrer Reproduktion beitragen. Gemäß dem Motto Walter Ulbrichts „Überholen ohne einzuholen“ nehmen sie eine Abkürzung, indem sie ihre nichteuropäische Herkunft und nichtweiße Hautfarbe als intellektuellen und moralischen Vorzug herausstellen und sich als Rebellen gegen eine „weiße“ Suprematie, Unterdrückung und Fremdbestimmung inszenieren.

Die Herausforderung ist in jeder Hinsicht unproduktiv, politisch und sozial aber wirkungsvoll: es winken Steuergelder und Quoten-Privilegien. Sie appelliert an ein historisches Schuldgefühl, das in einer exklusiven geistigen Errungenschaft des „weißen“ Westens wurzelt: in der Fähigkeit zu historischer Selbstkritik. Die migrantischen Aktivisten argumentieren auf der Grundlage einer Weltanschauung, die sie gleichzeitig als kolonialistisch verwerfen, ohne in der Lage zu sein, den Selbstwiderspruch zu reflektieren. Mit Wissenschaft oder sonstiger seriöser Praxis  hat das nichts zu tun, wohl aber moralischer Erpressung.

Das parasitäre Verfahren ist aus Sicht seiner Nutznießer plausibel und nachvollziehbar. Doch warum akzeptieren die anderen die moralische Asymmetrie, die sie in eine hoffnungslose Diskurs-Situation zwingt?

Wieder ist ein Blick nach Südafrika nützlich, konkret: in die Romane des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers John M. Coetzee. Der Schriftsteller kritisierte die Apartheid, indem er zeigte, daß sie sämtliche Beteiligte – die privilegierten Weißen genauso wie die unterdrückten Schwarzen und Farbigen beschädigte. Daher mußte sie zugrunde gehen. Aber auch die Post-Apartheid-Gesellschaft erscheint bei ihm in einem düsteren Licht.

Hauptfigur in Coetzees Roman „Schande“ (1999) ist der 52jährige Literaturprofessor David Lurie. Er lebt und arbeitet in Kapstadt, ist zweimal geschieden, die einzige Tochter, Lucy, führt ihr eigenes Leben. Seine Studenten hält er für dumm, die eigene wissenschaftliche Befähigung für begrenzt. Wenn er in die Zukunft schaut, sieht er sich als einsamen alten Mann, der den Tag damit zubringt, dem Abend entgegenzudämmern, um sich endlich seine Suppe kochen und schlafen legen zu können. Eine leidenschaftslose Liebschaft verbindet ihn mit der Studentin Melanie. Das Verhältnis wird bekannt, Lurie wird öffentlich gemobbt und ein Verfahren wegen sexueller Belästigung in Gang gesetzt. Der Untersuchungskommission genügt es nicht, daß er sich schuldig bekennt. Er soll eine Beichte ablegen, „Reue“ zeigen, sich „beraten“ und therapieren lassen. Weil er diese Zumutung als verrückt und demütigend ablehnt, muß er aus dem Universitätsdienst ausscheiden. Als Individuum und gesellschaftliche Person lebt er im Zustand der Absurdität. Er ist ein Geistesbruder von Camus „Fremdem“. (Vergl.: „Was die Stunde schlägt“, JF 23/08. Im Wikipedia-Eintrag zum Roman wurde der Artikel weitgehend ohne Quellenangabe übernommen.)

Er zieht zu seiner Tochter, die in der Provinz Ost-Kap allein eine kleine Farm betreibt. Dort werden sie von drei schwarzen Männern überfallen, die Lucy brutal vergewaltigen und schwängern. David kommt knapp mit dem Leben davon. Als Konsequenz aus dem Verbrechen trifft die Tochter verblüffende Entscheidungen. Sie beschließt, das Kind, das farbig sein wird, auszutragen. Ihre Farm überschreibt sie dem schwarzen Nachbarn und plant, in dessen Familienverband einzutreten, obwohl er in den Überfall eingeweiht war und die Täter kennt. Lucy, die in klischeehafter Weise die Attribute der modernen, emanzipierten jungen Frau vereint, negiert damit alles, was ihr Leben bis dahin ausgemacht und sie als Angehörige der westlichen Zivilisation ausgewiesen hat. 

Im Nebeneinander inkompatibler Kulturen wird nichts diskursiv ausgehandelt. Erst kommt die Gesetzlosigkeit, der das Recht des Stärkeren folgt. Während David einer harmlosen, jedenfalls einvernehmlichen Affäre wegen sich in den Fallstricken des Feminismus wiederfindet und gesellschaftlich geächtet wird, bleibt Lucys Vergewaltigung nicht nur ungesühnt, sie setzt und besiegelt neue, vorsintflutliche Macht-, Rechts- und Besitzverhältnisse. Lucy wiederum will darin kein Unrecht und auch keine neue Absurdität erkennen, sondern, dem westlichen Schulddiskurs folgend, das Ergebnis der historischen Logik und Gerechtigkeit. Mit der vollständigen Regression zu einer atavistischen Lebensform glaubt sie Gutes zu tun und erhofft sich die Befreiung aus den Selbstzweifeln des Absurden.

Ihr Vater teilt die Auffassung zumindest tendenziell. Als er nach mehreren Wochen nach Kapstadt zurückkehrt und sein Haus aufgebrochen und geplündert vorfindet, betrachtet er das als „Reparation“, welche den Schwarzen für das Leid der Apartheid zustehe. 

Rechnet man die individuelle Entscheidung auf die Politik hoch, ergibt sich: Dem Weißen Mann, der begangenes Unrecht an der Welt wiedergutzumachen sucht, ist die Fähigkeit abhanden gekommen, seine Lebenswelt zu schützen. Aus Selbstzweifel und Schuldgefühlen läßt sich keine Kraft zur Selbstbehauptung schöpfen. Der Schriftsteller Matthias Politycki hatte 2005 im Essay „Weißer Mann – was nun?“ prognostiziert, daß Europa der „Eruption physischer Macht und der Brutalität des vitalen Lebens“ aus der Dritten Welt nicht viel entgegenzusetzen habe. Auch der westliche Feminismus, an dem Lury gesellschaflich zerbricht, wird damit hinfällig. Melanies eifersüchtiger Freund, anstatt mit David die Auseinandersetzung von Mann zu Mann zu suchen, hatte ihn bei Melanies bigottem Vater denunziert und der feministischen Lobby ausgeliefert. Unterm Strich hat der Feminismus sich im „Kampf der Kulturen“ als dekadenter Schwächefaktor erwiesen. 

Lucy hatte gemeint, ihre Unterwerfung in ein Leben „ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde“, sei „eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang“. Welche Bilanz sie wohl im Angesicht der Randale von 2021 zieht? John M. Coetzee ist beizeiten aus Südafrika ausgewandert und australischer Staatsbürger geworden. Er sah voraus, daß aus der anstrengenden Vielfalt eine schmerzhafte, am Ende lebensgefährliche Einfalt erwachsen würde. Was sehen wir heute?

Foto: Militär vor einem zerstörten Geldautomaten in Soweto, Johannesburg: Das Land wird von Korruption, Kriminalität und ethnischen Gewaltkonflikten geprägt