© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Das war ein kleiner Weltkrieg
Bergkarabach: Geopolitische Gewitterzone im Kaukasus
Oliver Busch

In Danzig begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Die alte deutsche Hansestadt an der Ostsee war 1919, auf polnischen Druck hin, durch das Versailler Diktat vom Reich abgetrennt worden. Mit der Folge, daß die scheinsouveräne „Freie Stadt“ für zwei Jahrzehnte einen international ausstrahlenden deutsch-polnischen Konfliktherd bildete. Für den auf „ethnische Gewalt, Globalisierung, Guerillabewegungen und Revolutionen“ spezialisierten, in der alten Sowjetunion sozialisierten und heute in den USA lehrenden Politikwissenschaftler Georgi Derlugian war Danzig jedoch nur einer von vielen Plätzen, die er, wie das Elsaß, die irische Provinz Ulster, Sarajevo oder Jerusalem zur „geopolitischen Kategorie symbolisch umstrittener Orte“ zählt, „die gelegentlich explodieren“.

Der Vergleich gerade mit Danzig, wo sich ein Weltkrieg entzündete, muß schon herhalten, wenn Derlugian die Krisenregion Kaukasus beleuchtet und die Wurzeln der postsowjetischen Kriege und Konflikte bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt (Lettre International, 133/2021). Jüngster Akt des den westeuropäischen Zeitungsleser eher langweilenden Völkerdramas war der kurze Krieg, den Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 um die armenische Exklave Bergkarabach ausfochten. Auf den ersten Blick schien das nur eine Neuauflage des blutigen, zwischen 1992 und 1994 ausgefochtenen Streits um dieses Territorium zu sein, der mit armenischen Geländegewinnen endete. Nun also die Revanche im Ringen um einen ewigen Zankapfel?

Für Derlugian, der die Szenerie seit Jahrzehnten beobachtet und analysiert, wäre dies eine peinliche Fehleinschätzung. Könnte es doch gut sein, daß man im Herbst 2020 einen „kleinen Weltkrieg“ gesehen hat – Teil eins wohlgemerkt –, und Teil zwei unmittelbar bevorstehe. Denn für die Region Transkaukasien gelte exemplarisch das erste Gesetz der Geopolitik, das besagt, daß ein Territorium dann strategische Bedeutung erlangt, wenn Großmächte es als für sich bedeutend imaginieren.

Und diese wachsenden Großmachtinteressen an einer alten weltpolitischen Gewitterzone lassen sich seit den 1990ern registrieren. Hier stoßen neben USA und Rußland die „Avatare einst gewaltiger eurasischer Reiche aufeinander, Türken, Iraner, Pakistaner und letztlich auch Chinesen“. Im „kleinen Weltkrieg“ waren sie und ihre Vasallen letztes Jahr schon alle vertreten. Aserbaidschan siegte mit Hilfe türkischer Militärs, syrischer Dschihadisten und israelischer Drohnen. Pakistan stellte sich auf seiten Bakus, um im Gegenzug dessen Unterstützung für seine Rechte über Kaschmir zu bekommen. China, zwar jeglichem Separatismus abhold, auch dem armenischen in Karabach, betrachtet die pantürkische Verbrüderung im Kaukasus aber mit Argwohn, weil es sie als Element von Erdoğans „Größerem Turkestan“ wahrnimmt, die sich mit Unterstützung der turkstämmigen Uiguren bis in Mongolei ausdehnen könnte. Eine Expansion, die auch der Iran als Bedrohung auffaßt.