© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/21 / 13. August 2021

Dem Drachen nicht naiv begegnen
Matthias Naß über die aufstrebende Weltmacht China und ihr rücksichtsloses Gebaren auf dem internationalen Parkett
Albrecht Rothacher

Nach Theo Sommers magistralem „China First“ (2019) legt jetzt mit Matthias Naß ein zweiter Zeit-Autor sein Chinabuch vor. Es verblaßt zwar etwas vor dem Hintergrund des Alterswerks seines vormaligen Chefs, ist aber ebenfalls solide recherchiert, durch zahllose Reisen vor Ort und Interviews mit wichtigen Würdenträgern anschaulich untermauert und zeichnet sich – ebenso wie das Buch von Sommer – durch eine kritische Beurteilung des totalitären und korrupten Überwachungs- und Unterdrückungsstaates, wie ihn Xi Jinping seit seiner Machtergreifung im Jahr 2013 systematisch ausgebaut hat, erfreulich aus.

Dies im Gegensatz zur Leisetreterei der Berliner Regierung, in der Angela Merkel mit ihren jährlichen Pilgerfahrten die Traditionen des Kotaus vor den Pekinger Diktatoren in der würdigen Nachfolge von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder im Verbund mit liebedienerischen Wirtschaftsführern nicht erfunden, sondern nur noch gesteigert hat. Mit Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen und Öffnungspolitik ab 1976 hofften die westlichen Eliten illusorisch, die chinesische KP werde sich mit zunehmendem Wohlstand zur liberalen Marktwirtschaft und zum parlamentarischen Rechtsstaat bekehren. Spätestens beim Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 durfte klar geworden sein, daß die Kader sich nur hemmungslos bereichern, keinesfalls aber auf ihre Macht verzichten wollten.

Naß schildert den erstaunlichen, seit vier Jahrzehnten andauenden Wirtschaftsaufstieg Chinas und die sich auch unter Joe Biden weiter verschärfende technologische, ökonomische und strategische Rivalität mit den USA sehr anschaulich. Noch sind die USA dank ihrer wesentlich stärkeren Flotte und ihres Netzwerks von Stützpunkten, Verbündeten und Quasiverbündeten von Japan, Südkorea und Taiwan über Vietnam, Singapur, Australien, Neuseeland bis Indien im Indischen Ozean und Pazifik gegenüber China weit überlegen, das traditionell keinerlei Bündnisse eingeht, es sei denn mit abhängigen Vasallen wie dem Kim-Regime in Nordkorea und den Militärs in Myanmar. 

Chinesische Kredite treiben Empfängerländer in Staatskonkurs

Dennoch versucht es mit seiner Seidenstraßen-Initiative über Pakistan, Zentralasien und den Balkan eine von China kreditfinanzierte, gebaute und kontrollierte See-Landbrücke nach Europa, dem Mittleren Osten und nach Afrika zu konstruieren. Dies mit riesigen prestigeträchtigen Infrastrukturprojekten, die bei den Empfängerländern anfangs sehr populär sind, weil sie mit keinerlei ökologischen, sozialen oder Transparenz-Auflagen noch mit Rentabilitätskriterien verbunden sind. Wie Naß dramatisch schildert, treiben die Tilgungen und Zinsdienste etliche Balkan- und Entwicklungsländer mittlerweile in Richtung Staatskonkurs: Montenegro, Kirgisien, Dschibuti, Tansania, die Malediven, Sri Lanka, Laos … Bei Nichtbezahlung pfändet China dann kalt lächelnd die gebauten Häfen, Hotels, Paläste, Pipelines und Eisenbahnlinien. Von westlichen Predigten vom Schuldenerlaß und klimakorrekter Nachhaltigkeit wie zum Beispiel beim Export von Kohlekraftwerken hält es ohnehin nichts. 

Naß deckt auch sehr schön die Rückgratlosigkeit der EU-Chinapolitik auf, die beim Thema Menschen- und Volksgruppenrechte (für die Tibeter, Uiguren, Inneren Mongolen, Mandschu, Hmong etc.), zur Gleichschaltung Hongkongs und der militärischen Bedrohung des demokratischen Taiwan in plötzliche Schweigstarre verfällt, während die EU lauthals und selbstgerecht kleineren Staaten die Universalität ihrer Werte unablässig bekundet. Dies ist nicht nur der Chinaabhängigkeit vor allem der deutschen PKW-Industrie geschuldet, die sich vor den wiederholt angedrohten Repressalien Pekings fürchtet, sondern auch der Tatsache, daß sich China mittlerweile die Regierungen Ungarns und Griechenlands gefügig gemacht hat, die verläßlich seit Jahren auf Geheiß der chinesischen Botschafter eine gemeinsame kritische China-Politik blockieren.

Naß weist jedoch auch nach, daß ihr Einfluß bis in die Spitzen des Europäischen Auswärtigen Dienstes reicht, wo chinakritische Analysen, etwa zu den Ursprüngen der Corona-Epidemie und ihrer propagandistischen Verschleierung, der internen Zensur zum Opfer fallen. Dazu war die EU hoffnungslos naiv. Sie ließ chinesische Staatsinstitute und -firmen jahrelang an ihrem Galileo-Satellitenprogramm mitarbeiten und wundert sich jetzt, daß jene Technologie bei den militärischen Beidou-Satelliten zur Verbesserung der Kommunikation und Ortsbestimmung der Volksbefreiungsarmee bei ihren Scharmützeln gegen Indien und im südchinesischen Meer zum Einsatz kommt. Die Video-App TikTok und das Netzwerk „WeChat“ können weiter ungestört EU-weit genutzt werden. Vor einem Datenabfluß nach China bleiben die Nutzer ungeschützt. Erst der lebhafte US-Widerstand gegen den Netzwerkausrüster Huawei, der in China den elektronischen Überwachungsstaat möglich gemacht hat, hat in einigen europäischen Hauptstädten (Ausnahmen: Berlin, Wien und Rom) Alarmglocken gegen seine Beteiligung am europäischen 5G-Netz läuten lassen.

So ist das Buch voller spannender Entdeckungen, leidet jedoch wie die meisten Journalistenbücher unter einem Manko: Jedes Argument wird gefühlte zehnmal wiederholt, was den Leser auf die Dauer ermüdet. Die Quellen sind seriös belegt.

Matthias Naß: Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet. C.H. Beck, München 2021, gebunden, 320 Seiten, 24,49 Euro

Foto: Container aus China im Duisburger Hafen: Die neue Seidenstraße verbindet den größten Binnenhafen Europas mit chinesischen Metropolen