© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

„Es ist ein Skandal“
Demütigung in Afghanistan: Nach zwanzig Jahren Krieg triumphieren die Taliban. Wie konnte es so weit kommen? Afghanistan-Veteran Ralf Kneflowski, 2010 Kommandeur in Masar-e Scharif, ist sich sicher, der nun besiegte Westen hat die Kultur des Landes nicht verstanden
Moritz Schwarz

Herr Oberst, „die Amerikaner werden diesen Feldzug nicht gewinnen“, prophezeite Peter Scholl-Latour schon 2001 im Interview mit dieser Zeitung. Wenn das so klar vorauszusehen war, warum sind dann alle vom Ende in Afghanistan zumindest scheinbar so überrascht? 

Ralf Kneflowski: Tatsächlich ist es nicht überraschend, und ich teile Scholl-Latours Sicht, weil Auseinandersetzungen nur schwer zu gewinnen sind, wenn dabei Kulturen aufeinanderprallen. Schauen Sie auf die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg.  

Sie haben selbst in Afghanistan gedient. Hat Ihnen das die Augen dafür geöffnet? 

Kneflowski: Der Einsatz dort hat mich auf jeden Fall verändert. Es ist ein beeindruckendes Land, und viele der Afghanen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, sind großartige Menschen: wißbegierig, mutig und erfüllt vom Wunsch, ihr Land zu entwickeln. Die wahre Herausforderung begann erst nach dem Sieg über die Taliban: Sie erinnern sich, Amerikaner und Verbündete, zu denen auch Teile der afghanischen Nordallianz gehörten, vertrieben im Herbst 2001 die Taliban in nur wenigen Wochen. Dann aber galt es, das Land in die Zukunft zu führen. Und egal ob Afghanistan, Irak oder Libyen, stets war das Problem, daß es kein funktionierendes Konzept dafür gab – weil die Kultur der Länder nicht oder nicht genügend berücksichtigt wurde. 

Zum Beispiel? 

Kneflowski: Etwa hat unsere Vorstellung eines mehr oder weniger zentralen Staates, in dem die „Musik“ in der Hauptstadt spielt, überhaupt nichts damit zu tun, wie Afghanistan funktioniert. Das nicht nur aus verschiedensten Ethnien besteht, sondern wo auch zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land leben – die ergo politisch auf ihre Familien ausgerichtet ist und die es wenig bis gar nicht kümmert, was in Kabul passiert oder von dort kommt. So kam es, daß die Nato-Soldaten nach dem „Sieg“ 2001 fast sechs Jahre lang im wesentlichen in der Hauptstadt stationiert waren und dort nur warteten. 

Inwiefern „warteten“? 

Kneflowski: Die Taliban schienen verschwunden und in Kabul baute man den neuen Staat auf. Was dazu führte, daß man es jahrelang versäumte, auch die ländlichen Regionen  zu entwickeln. 

Was konkret wurde versäumt? 

Kneflowski: Zum Beispiel, mit den entscheidenden Eliten Kontakt aufzunehmen, sie einzubinden, sie nicht abseits stehen zu lassen. Wer war etwa im Europa des Mittelalters die Bildungselite? Der Klerus, der konnte lesen und schreiben, bestimmte die Kultur und stand auch, anders als der höhere Adel, in direktem Kontakt mit dem Volk. 

Sie meinen, statt einen Beamtenapparat aufzubauen, der ins Leere greift, hätte man auf die religiösen Strukturen setzen müssen? 

Kneflowski: Sowohl auf Imame und Prediger, für die wir uns so gut wie gar nicht interessiert haben, als auch auf Bürgermeister und Stammesälteste – denn sie alle sind es, die in den Dörfern bestimmen. Doch so ließen wir den ländlichen Großteil Afghanistans links liegen, während wir glaubten, in Kabul und mittels Infrastrukturprojekten – etwa der großen Ringstraße, die alle afghanischen Metropolen miteinander verbindet – das ganze Land zu entwickeln. Derweil erholten sich die Taliban in Pakistan und begannen uns ab 2006 wieder zu attackieren. Zwar zunächst nur mit Nadelstichen, dann aber gab es vermehrt improvisierte Sprengfallen, Selbstmordattentäter und Hinterhalte, die uns erheblich beschäftigten und schwere Opfer kosteten. So daß sich ab 2008 die Einsicht durchsetzte, daß wir raus aus Kabul und in die Fläche gehen müssen, um der wieder erstarkten Taliban und sonstiger Aufständischer Herr zu werden. Konkret bedeutete das, die etwa 10.000 alliierten Soldaten in der Hauptstadt bis 2010 auf 140.000 landesweit aufzustocken – aus 47 Nationen, darunter fast 6.000 Deutsche, dem nach den Amerikanern und Briten drittgrößten Kontingent. 

Warum hat auch das nicht funktioniert? 

Kneflowski: Das hat es. Doch kaum wirkte es, schoß die Politik quer, als US-Präsident Obama im September 2010 ankündigte, Ende 2014 abzuziehen. Man muß bedenken, was es mit Soldaten macht, wenn der Horizont nicht mehr vom Erfolg der Mission, sondern von einem Abzugstermin bestimmt wird. Zudem zogen erste Länder ihre Truppen schon bis Weihnachten 2010 ab. Dabei hatten die Militärexperten eigentlich nicht nur 140.000, sondern 500.000 Mann gefordert, um überall im Land präsent zu sein! Doch statt weiter zu steigen, sank nun die Zahl der Soldaten wieder.

Dafür gab es nun aber doch die afghanische Armee.

Kneflowski: Ja, aber man muß verstehen, daß in Afghanistan vor allem zählt, seine Familie durchzubringen, alles andere interessiert kaum. Und so hatte die Armee etwa 25 Prozent Ausfall an jedem Tag, weil viele für einige Tage nach Hause gingen, um dort wichtige Arbeiten zu erledigen. Es wurde dies von den afghanischen Vorgesetzten auch akzeptiert, weil das dort eben nun mal so läuft – bis wir versucht haben, dies einzuschränken. Anderes Beispiel: Wurde eine Einheit mit Material ausgerüstet, verkauften Kommandeure es einfach. Bei uns völlig undenkbar, dort ganz normal. Denn sie hatten „die Schlüssel und das Sagen“ und wer dort das Sagen hat, der nutzt es so weit wie möglich aus. Das mußte man erst einmal durchbrechen! Es gibt eine integrale Korruption in der afghanischen Gesellschaft, wegen der man kein schlechtes Gewissen hat, weil sie als selbstverständlich gilt. All diese kulturellen Bedingungen muß man zuerst verstehen, dann ändern, bevor überhaupt nur so etwas wie ein Regelausbildungsbetrieb für Polizei und Armee möglich wurde. Aber just in dem Moment, als wir das Problem angingen und erste wirkliche Erfolge erreichten, kam Obama mit dem Abzug bis 2014! 

Zu dem es aber doch gar nicht gekommen ist. 

Kneflowski: Stimmt, doch statt dessen wurde aus der inzwischen 140.000 Mann starken Nato-Operation für Afghanistan „Enduring Freedom“, die von 2001 bis 2014 dauerte, die Operation „Resolute Support“, die sich anschloß und nun, im Juli 2021, ausgelaufen ist. Und die Sie sich etwa so vorstellen müssen, als würde man einen Rennwagen zu einem Matchbox-Auto schrumpfen. Daß es damit aber erst recht nicht zu schaffen war, den Taliban etwas entgegenzusetzen, geschweige denn sie zu besiegen sowie Streitkräfte und Polizei aufzubauen, muß jedem klar gewesen sein.

Warum wurde der Unsinn dennoch beschlossen? 

Kneflowski: Weil die Politik längst nur noch interessierte, den Wählern den Abzug zu versprechen – und „gesichtswahrend“ herauszukommen.

Dennoch, warum ist die afghanische Armee so schnell kollabiert? Schließlich sind auch die Taliban Afghanen und müßten also mit den gleichen kulturellen Problemen zu kämpfen haben wie die Armee.

Kneflowski: Die Taliban operieren nicht in großen Einheiten, wie die Armee, sondern in kleinen Gruppen, maximal in Zugstärke, also zwölf bis sechzig Mann, die streng geführt werden und von Siegeswillen beseelt sind. Jeder erfolgreiche, noch so kleine Schlag gegen die verhaßten Eindringlinge stärkt die Moral, den Kampfgeist. Dazu kommt die schlechte Bezahlung, und man muß wissen, daß man in Afghanistan etwa 450 Dollar brauchte, um eine vier- bis fünfköpfige Familie durch den Monat zu bringen. Bezahlt man Soldaten aber nur 180 Dollar im Monat, ist doch klar, was passiert.

Die Taliban werben sie ab? Wie können sie mehr bezahlen als die vom reichen Westen finanzierte Armee?

Kneflowski: An sich sind Afghanen sehr tapfere Kämpfer. Aber bei der Armee verschwanden enorme Summen durch Korruption, statt bei den Soldaten als Verpflegung, Ausrüstung, Munition und Sold anzukommen. Die Taliban dagegen verfügten neben den erpreßten Steuern und Abgaben über erhebliche Einnahmen aus dem Drogenhandel. 

Also ist alles nur die Schuld der Korruption, der USA und der Nato? Die deutsche Politik trifft keine Schuld? 

Kneflowski: Daß Deutschland mit seinem trotz allem vergleichsweise kleinen Anteil den Ausgang des Konfliktes hätte entscheiden können, ist irreal.

Wir hätten ja gar nicht erst einsteigen müssen, wenn es, wie Sie eingangs sagten, von Beginn an keinen Plan gab, wie alles zu einem guten Ende zu bringen ist. 

Kneflowski: Das kann man natürlich diskutieren, doch nachdem der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA nach dem 11. September 2001 die „uneingeschränkte Solidarität“ erklärt hatte, waren wir nun mal dabei. 9/11 war schließlich ein Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland. Und dann kann man nicht einfach wieder aussteigen oder nein sagen – anders als beim Zweiten Irakkrieg.

Warum nicht, wenn das Scheitern absehbar ist? 

Kneflowski: Nein, die Devise war „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ – und das ist und war so auch richtig so und ohne die USA nicht zu schaffen. 

Das Volk war mehrheitlich stets gegen den Krieg. Die Politik hatte also eine komfortable demokratische Grundlage, um einen Ausstieg zu rechtfertigen.  

Kneflowski: Ja, doch auch Politiker sind nur Menschen. Wie jeder klammern sie sich an jeden Strohhalm und hoffen, daß alles irgendwie noch gutgeht. Ich gebe zu, mir geht das selbst so: Auch ich klammere mich etwa an die Hoffnung, daß die Taliban sich, wie indirekt versprochen, daran halten, unter den Orts- und Hilfskräften der Alliierten und westlich gesinnten Afghanen kein Blutbad anzurichten. 

Warum sind unsere Hilfskräfte nicht längst evakuiert? 

Kneflowski: Das ist eine gute Frage! Denn jede Armee braucht Leute im Land, die sie unterstützen. Damit war also schon von 2001 an klar, daß diese im Fall des Falles evakuiert werden müssen, wenn wir mit unserer Mission nicht erfolgreich sind. 

Trotzdem fällt das der Kanzlerin, der Verteidigungsministerin und dem Außenminister erst jetzt ein. Was ist davon zu halten? 

Kneflowski: Das ist im Grunde ein Skandal! Und zwar nicht nur die verschleppte Evakuierung, sondern auch, daß es, wie ich der Presse entnommen habe, eine Frist gibt, nach der nur die Hilfskräfte, die ab 2014 tätig waren, gerettet werden. Wenn das stimmt, ist das gleich der nächste Skandal! Denn diese Menschen haben für uns gearbeitet, uns vertraut und für uns Risiken auf sich genommen. Man kann sie nicht einfach im Stich lassen! Ehrlich gesagt bin ich sprachlos, daß ihre Rettung überhaupt ein Thema und nicht längst erfolgt ist. 

Immer wieder hat die Kanzlerin auf die christliche Motivation ihrer Politik gepocht, und Außenminister Maas gibt bekanntlich an, „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen zu sein. 

Kneflowski: Tja, ich nehme an, sie sind selbst überrascht vom Tempo der Ereignisse in Kabul. 

Mag sein, aber wäre die Evakuierung rechtzeitig erfolgt, wäre das kein Problem. 

Kneflowski: Sicher, doch manchmal kriegt man, selbst wenn man an der Spitze eines großen Apparates steht, den Bürokratenwurm nicht raus, wenn „der Wurm drin“ ist. 

Sie meinen ernsthaft, die Bundesregierung hat nicht die Macht, für eine rechtzeitige Evakuierung zu sorgen?

Kneflowski: Sie kennen doch die wochenlange Debatte um die Visa für diese Menschen. Das ist doch absurd! Da fliegt man einfach hin und holt die Leute raus! Alles andere klärt man danach, es geht schließlich um Leben!

Eben, aber genau das scheint Kanzlerin Merkel, Kramp-Karrenbauer und Maas nicht interessiert zu haben, sonst wäre das doch geschehen. Legt das nicht nahe, daß ihre Rede von christlichem Menschenbild und Auschwitz nur Heuchelei ist?

Kneflowski: Das glaube ich nicht, ich vermute ein krasse Fehleinschätzung dahinter. Versagen – ja, Heuchelei – nein.

So mußten Piloten und Fallschirmjäger nach Kabul fliegen und sich in Lebensgefahr begeben, was nicht nötig gewesen wäre, wären Merkel, AKK und Maas nicht erst jetzt aufgewacht.

Kneflowski: Das stimmt, und man kann nur hoffen, daß alles erfolgreich und glücklich für die Betroffenen ausgeht.

Sind dafür nicht drei Rücktritte fällig? 

Kneflowski: Das ist Sache der Politik. 

Sie sprachen oben selbst von „Skandal“. Was bedeutet das Wort, wenn es keine Folgen hat?

Kneflowski: Ich war und bin gegenüber dem schnellen Fordern von Rücktritten und Entlassungen schon immer skeptisch – auch etwa im Fall von Kommandeuren, bei angeblichen Mißständen, die noch gar nicht richtig untersucht waren und schon für manche aufgeklärt zu sein schienen. 

Angesichts der Taliban in Kabul stellt sich nun die Frage: Wofür sind unsere 59 Gefallenen dieses Krieges gestorben?

Kneflowski: Wir hatten in Afghanistan einen festen Auftrag und ein Mandat. Jeder Soldat, der im Einsatz fällt, fällt, weil er bereit ist, sich für etwas einzusetzen, von dem er glaubt, daß es das Richtige ist. Das ist das Tröstliche, ändert aber nichts daran, daß es etwas unermeßlich Furchtbares ist, wenn wir Vorgesetzte eine Todesnachricht überbringen müssen. Die Frage nach dem Sinn stellt sich. Aber eben deshalb ist es auch so unglaublich wichtig, daß Politik und Gesellschaft das, womit das Parlament die Soldaten beauftragt hat, mittragen, flankieren und wir sie nicht mit „freundlichem Desinteresse“ allein lassen! 






Oberst a. D. Ralf Kneflowski, der Stabsoffizier war von Juni bis Dezember 2010 Co-Kommandant des US-Feldlagers Mike Spann bei Masar-e Scharif in Nordafghanistan sowie der „Training Mission Afghanistan Regional Support Command-North“. Zuvor war er schon auf dem Balkan im Einsatz. Geboren 1951 in Fulda, seit 1971 Soldat, diente der Artillerist unter anderem als stellvertretender Kommandeur der Panzerbrigade 21 sowie zuletzt, von 2007 bis 2012, als Kommandeur des Landeskommandos NRW in Düsseldorf. 

Foto: Talibankämpfer in Kabul: „Streng geführt und von Siegeswillen gegen die Eindringlinge beseelt“