© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Matthias Politycki. Der Schriftsteller hat Deutschland aus Protest gegen die Ideologisierung der Sprache verlassen.
Auf der Flucht
Thorsten Hinz

Der Schriftsteller Matthias Politycki, bekannt vor allem für seinen „Weiberroman“ (1997) und die Satire „In 180 Tagen um die Welt“ (2008), gehört zum festen Inventar des bundesdeutschen Literaturbetriebs. Das macht den zornigen Text, den er vor kurzem in der FAZ unter dem melodramatischen Titel „Mein Abschied von Deutschland“ veröffentlichte, doppelt bemerkenswert. Die Überschrift bezieht sich auf seinen Umzug von Hamburg nach Wien, die er als Flucht vor der sogenannten Wokeness, der Steigerungsform der Politischen Korrektheit, beschreibt. Denn in Deutschland betrieben Sprach- und Diskurswächter mit „jakobinischem Eifer“ die „Selbstzerstörung“ des intellektuellen und künstlerischen Lebens. Es handele sich um „die Herrschaftsform einer Minderheit, die sich anmaßt, gegen den Willen der Mehrheit die Welt nach ihrem Bild neu zu erschaffen“.

Gender- und Identitätspolitik demolierten auch die Sprache, das ureigene Arbeitsmaterial eines Schriftstellers. „Es geht an das, was wir künftig in welcher Wortwahl und Grammatik noch schreiben dürfen – und wer es aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seiner sexuellen Orientierung nicht mehr darf“, ergänzte Politycki in einem Interview. „Ich sehe die Freiheit der Phantasie, die Freiheit des Gedankens und der Sprache tatsächlich bedroht.“ Der einst überzeugte Linke meint darin eine „Pervertierung linken Denkens“ zu erkennen. Da jedoch liegt er falsch. Es ist dessen unvermeidliche Konsequenz, die immer dort eintritt, wo linkes Denken hegemonial geworden ist. Für einen Schriftsteller besteht dann die Gefahr, zum Sprachrohr einer Doktrin, zum Literaturfunktionär, herabgewürdigt zu werden.

Ihr Thema, Herr Politycki! Sie sollten den Lesern über den grassierenden Wahnsinn hier die Augen öffnen.

Polyticki, geboren 1955 in Karlsruhe, aufgewachsen in München, hat sich schon in der Vergangenheit als relativer Freigeist erwiesen. 2005 veröffentlichte er in der Zeit den Aufsatz „Weißer Mann – was nun?“, in dem er aufgrund seiner vitalen Eindrücke in Asien und Lateinamerika Zweifel anmeldete, daß der Westen sich weiterhin als Mittelpunkt der Welt betrachten dürfe. Man hielt ihm entgegen, das sokratische Prinzip des Zweifels, das Gewißheiten ständig in Frage stelle, verbürge die unüberwindliche geistige Kraft der freiheitlichen westlichen Kultur. Was damals schon eine Verkennung der doktrinären Zustände war, klingt heute, im Zeichen von Cancel Culture, grotesk.

Politycki meint einen protestantischen Furor zu erkennen und glaubt an den süddeutsch-österreichischen Kulturkatholizismus als mildernde Kraft. Daß er sich da mal nicht täuscht! Karl Kraus begrüßte 1933 in Wien eintreffende Emigranten mit dem sarkastischen Satz: „Die Ratten betreten das sinkende Schiff.“ Schlimmer noch: Während das analoge Kulturleben unter der Corona-Fuchtel erstirbt, übernimmt Amazon die geistig-kulturelle Grundversorgung und legt für seine Filmproduktion als globale Regel fest, wovor Polyticki flieht: „Nur noch Schauspieler zu engagieren, deren Identität (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnie, Sexualität, Behinderung) mit den Figuren, die sie spielen, übereinstimmt.“ 

Ihr Thema, Herr Politycki! Die Literatur braucht einen brutalstmöglichen Realisten, der den Lesern über den grassierenden Wahnsinn die Augen öffnet.