© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Fatale Fehleinschätzung
Bundeswehr: Chaotische Szenen bei Evakuierungen aus Afghanistan / Debatte um Hilfskräfte
Peter Möller

Selten hat sich eine politische Lage so schnell und so grundsätzlich gewandelt, wie in den vergangenen Tagen in der Frage der Abschiebung beziehungsweise Aufnahme afghanischer Flüchtlinge in Deutschland. Anfang August war der vorerst letzte Abschiebeflug kurz vor dem Start abgesagt worden. In der vergangenen Woche dann verkündete Innenminister Horst Seehofer (CSU) angesichts des Vormarschs der Taliban einen vorläufigen Abschiebestopp nach Afghanistan und erhielt für diese Entscheidung vor allem von SPD, Grünen, Linkspartei und FDP, aber auch aus der Union Beifall.

Schußwechsel in Kabul behindert Evakuierung

Doch spätestens seit dem Wochenende und der faktischen Machtübernahme durch die Taliban in der Hauptstadt Kabul spielt das Thema Abschiebungen nach Afghanistan in Berlin kein Rolle mehr. Die Frage lautet jetzt: Wie viele neue Flüchtlinge werden sich auf den Weg nach Europa und vor allem nach Deutschland machen? Und: Wie können deutsche Staatsbürger und die Einheimischen, die für die Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet haben, noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden?

Anfang der Woche machte sich angesichts der sich überstürzenden Ereignisse am Hindukusch, mehr noch aber aufgrund des Verhaltens der Bundesregierung über die Parteigrenzen hinweg zunehmend Entsetzen im politischen Berlin breit. Der Vorwurf: Die Bundesregierung und vor allem das Auswärtige Amt von Außenminister Heiko Maas (SPD) reagierten zu spät und zu unentschlossen auf die sich dramatisch verschärfende Situation in Afghanistan und in Kabul.

Daß die Bundesregierung die Lage in Afghanistan völlig falsch eingeschätzt hat, ist in den Augen der meisten Beobachter das eine. Entscheidender sei die Frage, warum trotzdem nicht sofort gehandelt wurde, als der rasche Zusammenbruch der vom Westen gestützten Regierung in Kabul offensichtlich wurde. Vor allem der späte Beginn der deutschen Evakuierungsmission stößt auf Unverständnis. Obwohl die dafür vorgesehenen Militärtransporter der Luftwaffe vom Typ A400M seit Samstag bereitstanden, starteten sie erst in der Nacht zum Montag in die Region. Die Folge: Als schließlich die erste Maschine unterwegs war, war auf dem Flugplatz in Kabul längst das Chaos ausgebrochen und eine Landung nicht mehr möglich. Die Maschine mußte unverrichteter Dinge nach Taschkent in Usbekistan zum Nachtanken ausweichen. Erst die zweite Maschine konnte mit rund 80 Fallschirmjägern an Bord landen. Mit ihr wurden wenig später fünf Deutsche, ein Niederländer und ein Afghane ausgeflogen.

Die geringe Zahl der Ausgeflogenen sorgte angesichts der Tatsache, daß an Bord des A 400M Platz für mehr als 100 Personen ist, für Verwunderung. „Es ist unfaßbar, daß nur sieben Leute in dieser Maschine waren. Man hätte sie vollmachen müssen, das ist eine Verantwortung, in der Deutschland steht“, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion Dietmar Bartsch dem Fernsehsender Phoenix. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu am Dienstag, wegen der chaotischen Zustände und „regelmäßiger Schußwechsel“ sei nicht gewährleistet gewesen, daß weitere zu evakuierende Personen Zugang zum Flughafen erhalten würden. „Eine Aufnahme von Personen, die sich am zivilen Teil des Flughafens aufhielten, wurde von den Partnern, die die Sicherheitsverantwortung am Flughafen ausüben, nicht ermöglicht.“ Die Maschine der Bundeswehr hätte den Kabuler Flughafen zudem wegen Sicherheitsvorgaben der Partner in Kabul „nach kurzer Zeit“ wieder verlassen müssen. 

Nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) habe der Flug in erster Linie dazu gedient, die Fallschirmjäger in Kabul abzusetzen. „Wir haben vor allen Dingen Soldaten dorthin gebracht, die jetzt absichern, damit die Leute, die wir rausfliegen wollen, auch überhaupt die Möglichkeit haben, zum Flugzeug zu kommen. Das war gestern der Hauptauftrag“, sagte die Ministerin am Dienstag der ARD.

Bereits am Montag nachmittag hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einer Pressekonferenz Schwierigkeiten bei der Evakuierung von Ortskräften eingeräumt. Nach Merkels Angaben seien von 2.500 Ortskräften bereits 1.900 vor der Machtübernahme der Taliban außer Landes gebracht worden. Nun versuche man unter anderem auch rund 1.500 Mitarbeiter der Entwicklungszusammenarbeit und von Nichtregierungsorganisationen mit Maschinen der Luftwaffe auszufliegen. Mittlerweile sind mit einer zweiten Maschine 125 Passagiere sicher evakuiert worden (Stand bei Redaktionsschluß). Am Montag war zudem bekannt geworden, daß die in Kabul für die verbliebenen Ortskräfte eingerichteten Safehouses, die als Sammelpunkte für die Evakuierung eingerichtet worden waren, angesichts der Situation in der Hauptstadt aufgegeben werden mußten, da sie von den Taliban entdeckt worden seien.

Auch die Tatsache, daß die deutsche Botschaft in Kabul erst am vergangenen Sonntag evakuiert wurde, wirft Fragen auf. Einem Bericht der ARD zufolge hatte die Botschaft bereits am Freitag auf eine Evakuierung gedrängt, aus dem Auswärtigen Amt sei aber lange keine entsprechende Anweisung gekommen. Unterdessen wächst offenbar auch innerhalb der Bundesregierung die Sorge vor einer neuen Flüchtlingswelle. Bundesinnenminister Seehofer rechnet damit, daß bis zu fünf Millionen weitere Afghanen die Flucht ergreifen. In Berlin ahnt man bereits: Im Falle einer großen Fluchtbewegung dürften sich viele Afghanen auf den Weg nach Europa und insbesondere nach Deutschland machen.

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Foto: Fliegerhorst Wunstorf: Soldaten warten auf den Abflug nach Kabul