© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Festhalten am Inzidenzwert
Corona-Maßnahmen: Ständige Impfkommission empfiehlt nun doch Impfung für Jugendliche / Druck auf Ungeimpfte wächst
Jörg Kürschner

Nach erheblichem politischen Druck hat die Ständige Impfkommission (Stiko) Corona-Impfungen für die rund 4,5 Millionen 12- bis 17jährigen empfohlen. Stiko-Chef Thomas Mertens wies diese Darstellung zurück, doch war das Gremium von Politikern wiederholt ultimativ aufgefordert worden, seine abwartende Haltung zum Impfen von Kindern und Jugendlichen zu ändern. „Es hätte keines Drängens von Politikerseite aus bedurft“, kommentierte der Vorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt, die Impfempfehlung.

Die Gefahr einer Infektion bei Kindern und Jugendlichen sei größer als die möglichen Nebenwirkungen, begründete die Stiko ihre Entscheidung. Die Neubewertung fußt auf einem US-Überwachungsprogramm mit nahezu zehn Millionen geimpften Kindern. Der Impfschutz soll jedoch keine Voraussetzung für den Schulbesuch sein, versicherte Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD). Anfang vergangener Woche hatten die Länder-Ministerpräsidenten und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Druck auf Ungeimpfte erhöht. Zugleich sprach sich die in der Verfassung nicht vorgesehene Runde dafür aus, die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ über den 11. September hinaus zu verlängern. Diese gibt dem Bund das Recht, direkt Verordnungen zu Tests und Impfungen zu erlassen. Zuständig für eine Verlängerung ist der Bundestag. 

Auf Druck der Kanzlerin beließ es die Runde bei der Inzidenz, also die Zahl der Infektionen pro 100.000 Einwohner, als Maßstab aller Corona-Maßnahmen, trotz vielfacher Forderungen, auch aus der Wissenschaft, neben der Inzidenz weitere Leitwerte zu definieren, etwa die Belegungsquote bei Intensivbetten oder die Impfquote. Das grünschwarz regierte Baden-Württemberg geht allerdings seinen eigenen Weg und verabschiedete sich von der Inzidenz als alleinigem Kriterium bei der Bewertung der Corona-Lage. Bayerns Regierungs-

chef Markus Söder (CSU) wies die Schuld an der starren Haltung Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu: „Es gibt kein Konzept.“ Ähnlich äußerte sich Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller für die SPD-Länder. So gilt für Ungeimpfte in Innenräumen weiter die Inzidenz 35, „weil die Kanzlerin es so wollte“, wie Söder bemerkte. Die beschlossene 3G-Regel, die ab kommendem Montag gilt, erlaubt nur noch Geimpften, Genesenen oder negativ Getesteten Zutritt etwa zu Innengastronomie, Friseurgeschäften, Pflegeheimen oder Fitneßstudios. Söder ließ durchblicken, daß er mittelfristig eine 2G-Regel (Freiheiten nur für Geimpfte und Genesene, aber nicht für Getestete) für erforderlich hält. Bund und Länder haben sich zudem darauf geeinigt, daß die Bürger die bisher kostenlosen Schnelltests ab 11. Oktober selbst bezahlen müssen. Ausnahmen sollen für Schwangere und Kranke gelten.

Die Opposition bekräftigte ihre Kritik an der Corona-Politik, nicht nur an den Regierungsbeschlüssen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch vermißte „positive Anreize“ für die Impfkampagne. Der Virologe Klaus Stöhr sprach Klartext: „Ich finde, daß wir uns in einem Paralleluniversum in Deutschland befinden, wenn man uns mit anderen Ländern vergleicht.“ Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sieht Merkel „in ihrer Angstblase gefangen“. Die Kritik verstärkte sich noch durch Äußerungen von Spahn, die Menschen „müßten noch einmal durchhalten bis zum Frühjahr“. Die Zahl der Impfungen reiche nicht aus, um eine Belastung des Gesundheitswesens auszuschließen. Doch stellte sich heraus, daß das Robert-Koch-Institut (RKI) an seinen eigenen Zahlen zweifelt. Wahrscheinlich sind deutlich mehr Menschen geimpft als offiziell gemeldet, möglicherweise bis zu 20 Prozent mehr, wie Umfragen nahelegen. Deutschland sei seit Beginn der Pandemie „im Blindflug unterwegs“, ätzte der Grünen-Politiker Dieter Janecek.

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