© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Niederlage mit Ansage
Afghanistan: Der Westen ist raus. Jetzt können die Regionalmächte von Indien bis zur Türkei, vom Iran bis Rußland ihre Kräfte proben
Jörg Sobolewski

Es ist eine der schnellsten Offensiven der Geschichte. In weniger als zehn Tagen ist es den Kräften der Taliban gelungen, nahezu alle relevanten Gebiete Afghanistans einzunehmen. Als am 15. August die ersten Vororte am Stadtrand von Kabul in die Hände der Gotteskrieger fielen, hatte man im Westen des Landes bereits vollständig die Kontrolle über die Lage verloren. Während am Boden die bärtigen Sieger in gepanzerten Fahrzeugen vor den Präsidentenpalast fuhren, flogen US-Helikopter in der Luft hektisch zwischen dem Flughafen und der Botschaft hin und her. Nach fast zwanzig Jahren steht der Sieger im Krieg um das zentralasiatische Land fest. Eine Miliz aus Gotteskriegern hat das mächtigste Militärbündnis der Welt in die Knie gezwungen.

Dabei hatte man sich noch vor wenigen Monaten in Washington und Berlin zuversichtlich gegeben. Es werde nicht zu einer Situation kommen, in der „Menschen per Helikopter vom Dach der Botschaft gerettet werden“, er habe „volles Vertrauen in die afghanischen Streitkräfte“, so US-Präsident Biden noch Anfang Juli. Das alte amerikanische Trauma von der Niederlage in Vietnam werde sich nicht wiederholen, die Taliban seien nicht die nordvietnamesische Armee und Kabul nicht Saigon. Auch der bundesdeutsche Außenminister Heiko Maas konnte sich einen Durchmarsch der Islamisten nicht vorstellen. Eine „lebendige afghanische Zivilgesellschaft“ würde dies verhindern, twitterte der SPD-Politiker im Juni dieses Jahres. 

Die afghanischen Sicherheitskräfte waren Platzhalter für die Taliban

Tatsächlich lag Biden nicht völlig falsch: Zwischen dem Beginn der Frühjahrsoffensive der Nordvietnamesen und dem berühmten Foto des überfüllten Helikopters auf dem Dach der US-Botschaft lagen mehrere Monate. Die Machtübernahme der Taliban vollzog sich hingegen in wenigen Wochen. Dabei präsentierte sich die Afghan National Army (ANA) anfangs auf dem Papier durchaus als respektable Streitmacht. Über 300.000 Soldaten standen theoretisch auf der Gehaltsliste der Regierung in Kabul, von der Nato gut ausgerüstet und trainiert. Doch im Angesicht der motivierten und siegesgewissen Taliban zerschmolz die ANA, einige Einheiten liefen wohl über, andere flohen in die Nachbarstaaten. Ein einsatzerfahrener Hauptfeldwebel der Bundeswehr sprach gegenüber der JUNGEN FREIHEIT von einem reinen „Platzhalter für die Taliban“. Die ANA habe „denen lediglich den Stuhl warmgehalten“.

Auch die von der Bundesregierung erhoffte Zivilgesellschaft erwies sich als nicht existent. Wo die Männer mit dem islamischen Glaubensbekenntnis auf der weißen Fahne einzogen, wurden sie meist von jubelnden jungen Männern empfangen. Lediglich am Flughafen in Kabul ließ sich ermessen, wie viele Afghanen in Furcht vor den Siegern sind. Tausende stürmten den Hamid Karzai Airport in der Hoffnung, einen Flug aus dem Land zu ergattern, und klammerten sich teilweise an startende Flugzeuge. Dort befinden sich auch die letzten Kontingente der Nato, neben US-amerikanischen auch 600 deutsche Fallschirmjäger. Nachdem das Bundesaußenministerium den Einsatz der „robusten Einheiten“ seit Freitag verzögert hatte, beendete der Fall Kabuls am Sonntag alle Illusionen über einen sich länger hinziehenden Konflikt. 

Während die Weltöffentlichkeit fassungslos auf die Bilder aus Afghanistan schaut, vollziehen sich im Hintergrund bereits entscheidende politische Weichenstellungen. Denn auch den Taliban sind die Veränderungen der geopolitischen Großwetterlage nicht verborgen geblieben. Bisher geben sie sich betont konziliant gegenüber ehemaligen Gegnern. Der einstige Bildungsminister der Taliban, Amir Chan Muttaki, verhandelt mit Mitgliedern der gestürzten Regierung über eine Beteiligung. Auch Frauen sollen in der Regierung vertreten sein, so das Mitglied der Kulturkommission der Taliban Enamullah Samangani am Dienstag im inzwischen von den Taliban kontrollierten Staatsfernsehen.

„Die Taliban von 2021 sind nicht die Taliban von 2001“, meint auch der Afghanistanveteran der Bundeswehr. Sowohl die Kampfkommandanten im Land als auch die Exilführung in Katar wollen eine erneute Isolation des Landes vermeiden und sind dafür sogar zu Zugeständnissen bereit. Die Adressaten der friedlichen Gesten dürften vor allem im zentralasiatischen Umfeld zu finden sein, denn das wirtschaftliche Überleben der neuen Regierung hängt von den Regierungen in Islamabad, Peking und Moskau ab. Während man in Pakistan traditionell offene Türen vorfindet, birgt das Verhältnis zu China einiges an Sprengstoff. Peking bekämpft den politischen Islam in seiner Provinz Xinjiang mit großer Härte. Seit langem fürchtet man dort, daß ein Islamisches Emirat Afghanistan aufständischen Uiguren Unterschlupf bieten könnte. Doch einstweilen regiert die Politik der ausgestreckten Hand. Man habe gute Gespräche geführt, China „respektiere den Willen und die Wahl des afghanischen Volkes“, so das chinesische Außenministerium über die Veränderungen im Nachbarland. Auch die russische Botschaft verkündet, man habe „Kontakt zu den neuen Machthabern aufgenommen“.

Irans Präsident: „Sicheres und stabiles Afghanistan“

Auch Indien beobachtet seit Jahren die Sicherheitslage mit Sorge. Die Regierung von Narendra Modi hatte zuletzt der Regierung in Kabul mit Rüstungsexporten unter die Arme gegriffen. Für Indien verschärft sich die ohnehin angespannte Sicherheitslage in Zentralasien. Da der Erzfeind Pakistan über beste Kontakte zu den kampferprobten Taliban verfügt, fürchtet Neu-Delhi einen weiteren sicheren Hafen für Terroristen aus der Unruheprovinz Kaschmir. Der Iran hingegen begrüßte die Machtübernahme in Kabul, trotz des schiitisch-sunnitischen Gegensatzes hatte Teheran in der Vergangenheit zur Exilvertretung der Taliban ein gutes Verhältnis aufbauen können. Ein „sicheres und stabiles Afghanistan“ sei im Interesse aller, verkündete Präsident Ebrahim Raisi im staatlichen Fernsehen. Er dürfte dabei vor allem die langfristige Rückkehr von schätzungsweise zwei Millionen afghanischen Flüchtlingen im Auge haben, die hauptsächlich in den iranischen Grenzprovinzen leben.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte ebenfalls an, mit den neuen Machthabern reden zu wollen. Der Türkei, die sich seit einiger Zeit verstärkt in Zentralasien engagiert, dürfte ebenfalls langfristige Stabilität am Herzen liegen. Mit den turksprachigen Nachbarstaaten Afghanistans kulturell und politisch eng verbunden, fürchtet Ankara vor allem die desaströsen Auswirkungen einer Flüchtlingskrise. Die Ankündigung einer Amnestie für politische Gegner durch die Taliban sei daher „begrüßenswert“, so Erdoğan. Der Westen indes ist nur noch Zaungast dieser globalen Kräfteverschiebung.





Rückkehr der Taliban 

Ende März 2017

Afghanische Kräfte ziehen aus der Stadt Sangin ab, die im Zentrum der Opiumregion Helmand liegt, und überlassen den Ort kampflos den Taliban. Am 5. Mai fällt der erste Bezirk in die Hände der Islamisten. Vor allem in ländlichen Provinzen sind diese stark. 

29. Februar 2020

Die USA unterzeichnen einen Vertrag mit den Taliban. Sie verpflichten sich, in den kommenden Monaten ihre Truppen um ein Viertel zu reduzieren und später ganz abzuziehen. Die Taliban garantieren, Terrororganisationen wie dem IS oder al-Qaida zu bekämpfen sowie Friedensverhandlungen mit Kabul zu beginnen. Kabul ist nicht an den Gesprächen beteiligt. Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte nehmen in der Folge stark zu.

12. September 2020

Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und Kabul beginnen. 

17. November  2020

Beginn des US-Truppenabzug. Es sind noch 4.500 US-Soldaten im Land.

13. April 2021

US-Präsident Joe Biden verkündet den vollständigen Abzug bis zum 11. September. Am 14. April folgt die Nato. Der Abzug der etwa 10.000 Soldaten beginnt im Mai, darunter 1.100 deutsche.

28. Mai 2021

Die Taliban verstärken ihre Angriffe. Vier weitere der etwa 400 Bezirke des Landes sind seit Anfang Mai an die Islamisten gefallen. 88 sind unter Taliban-Kontrolle, 97 beherrscht die afghanische Regierung, 213 sind umkämpft.

30. Juni 2021

Die letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan sind zurück. In fast 20 Jahren waren 150.000 am Hindukusch im Einsatz. 59 kamen dort ums Leben, 35 im Gefecht oder durch Anschläge. Die Taliban kontrollieren mittlerweile über 200 der Bezirke, 75 sind noch in Kabuls Hand. Die Taliban halten sämtliche Grenzübergänge zum Iran und auch ein Dutzend weiterer, die nach Zentralasien und Pakistan führen. Die USA versuchen mit Luftschlägen den Vormarsch der Taliban zu verlangsamen und der Arsenale an westlicher Ausrüstung zu zerstören.

8. August 2021

Die Taliban kontrollieren 229 Bezirke, 66 sollen noch in Regierungshand sein. Binnen Stunden nehmen sie vier Provinzhauptstädte ein, darunter Kundus, wo die Bundeswehr stationiert war.

11. August 2021

Die Taliban übernehmen die „Ring Road“ nördlich von Kabul. Die Gebiete im Norden des Landes, in denen vor 2001 den Taliban Widerstand geleistet wurde, sind so abgeschnitten.

12. August 2021

Das US-Militär will 3.000 Soldaten zum Flughafen Kabul verlegen, um das Ausfliegen des Personals zu unterstützen.

13. August 2021

Die Bundesregierung will die Botschaft in Kabul evakuieren.

14. August 2021

Die USA sagen das Ausfliegen Tausender Menschen täglich zu und veranlassen die Zerstörung sensiblen Materials in ihrer Botschaft. Die Taliban nehmen Masar-e Scharif und weitere Städte im Norden ein. Warlords, die 2001 Widerstand geleistet haben, sind geflohen. Kabul wird eingekesselt. Nur drei große Städte wurden noch nicht genommen. Biden macht den Sicherheitskräften und der Landesführung Vorwürfe wegen mangelnder Kampfbereitschaft. In den vergangenen acht Tagen haben die Islamisten die Hälfte der 34 Provinzhauptstädte eingenommen – viele davon kampflos.

15. August 2021

Biden droht mit einer militärischen Reaktion. Statt 3.000 sollen nun etwa 5.000 Soldaten die Ausreise des Botschaftspersonals sichern. Dschalalabad fällt als vorletzte Großstadt. Der Belagerungsring um Kabul steht. Präsident Ashraf Ghani flieht per Flugzeug aus dem Land. Die Taliban rufen ihren Sieg aus.

16. August 2021

Die Islamisten nehmen Kabul ein und verhandeln mit den Resten der Regierung die Machtübernahme. (mp)





„Der Afghanistan-Krieg kann nicht gewonnen werden! Ganz einfach! Obendrein wird der Krieg auch noch unzureichend geführt: Es existieren weder ein Worst-Case-Szenario noch eine Exit-Strategie. Das heißt, man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, was man tut, wenn die Situation sich plötzlich dramatisch verschlechtern sollte, bzw. wie man langfristig aus der Situation herauskommt. Das aber sind die Grundvoraussetzungen für eine verantwortungsbewußte militärische Intervention. Die Regierung in Berlin dagegen nimmt die Warnungen der militärischen Kommandeure im Land, des BND und unseres Botschafters in Kabul einfach nicht zur Kenntnis, sondern opfert sie bündnispolitischen Erwägungen.“

Peter Scholl-Latour (1924- 2014) 2007 in der JF

Foto: Afghanen erreichen die Grenze zu Pakistan am Übergang Chaman: Die Taliban kontrollieren ab dem 16. August ganz Afghanistan. Präsident Ashraf Ghani war zuvor mit dem Flugzeug geflohen. Die Nachbarstaaten suchen nach Stabilitäts-Ankern im Land.