© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Kurz vor dem Kollaps
Mali: Separatistische und islamistische Gruppen könnten den Staat in die Knie zwingen
Marc Zoellner

Die Angreifer kamen auf Motorrädern und töteten jeden in Sichtweite: Mindestens 49 Opfer, zum größten Teil Männer und Kinder, zählten Malis Sicherheitskräfte bei der jüngsten Attacke auf vier kleine Siedlungen im Kreis Ansongo im Nordosten des Landes. Es war das schwerste Massaker seit Jahren in dieser Gegend nahe den Nachbarstaaten Niger und Burkina Faso. 

Unbekannte hatten die abgeschiedenen Siedlungen Anfang August geradezu überrannt und ein gewaltiges Blutbad angerichtet. „Wir können einfach nicht verstehen, wie ein solches Gemetzel möglich ist“, sagte Almahady Cissé, ein Vertreter des Volkes der Songhai, das die Niger-Region zwischen Timbuktu und Gao bewohnt, dem US-Nachrichtensender Voice of America. „Die Camps der Armee sind nicht einmal achtzehn Kilometer entfernt, und trotzdem gab es keine Verstärkung, die Täter wurden nicht verfolgt.“ 

Der von Wüstenlandschaft geprägte Kreis Ansongo ist in etwa so groß wie das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, zählt allerdings nur ein Zehntel von dessen Einwohnerschaft. Spätestens seit der Tuareg-Rebellion gegen Malis Regierung im April 2012 ist das Gebiet stark umkämpft und wird nun von verschiedenen separatistischen sowie islamistischen Gruppierungen beansprucht. Aufständische Tuareg hatten die gleichnamige Stadt der Region Gao, zu der auch der Kreis Ansongo gehört, vor neun Jahren zur Hauptstadt des von ihnen ausgerufenen Staates Azawad, zu deutsch „Land der Wadis“, ernannt. 

Mali gehört laut US-Bericht zu den 20 instabilsten Staaten 

Nur wenige Monate später mußte die Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) – ein bewaffneter Arm der Tuareg-Rebellion – jedoch vor den heranrückenden Dschihadisten der radikalislamischen Ansar Dine kapitulieren. Letztere, die sich ebenfalls mehrheitlich aus der Volksgruppe der Tuareg rekrutierten, bestanden auf einem komplett unter dem Scharia-System vereinten Mali anstelle eines eigenständigen Tuareg-Staates.

 Im Frühjahr 2017 wiederum schloß sich Ansar Dine, von der internationalen Koalitionstruppe der UN-geführten Friedensmission Minusma in die Wüste zurückgedrängt, mit weiteren islamistischen Gruppierungen zur Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (JNIM) zusammen. Die JNIM bekämpft seitdem nicht nur die malische Regierung in der Hauptstadt Bamako, sondern auch die MNLA sowie den Islamischen Staat der Großsahara (ISIS-GS). 

Im „Fragile States Index“, einem jährlich herausgegebenen Bericht der US-Denkfabrik Fund for Peace über die bedrohte Stabilität von rund 180 Ländern, rangiert Mali in diesem Jahr zwischen Libyen und dem Irak auf Platz 19. „Ich bin sehr besorgt darüber, daß die gravierende und anhaltende Verschlechterung der Sicherheitslage eine kritische Schwelle überschritten hat“, mahnt UN-Menschenrechtsexperte Alioune Tine. Die Gewalt in Mali breite sich so schnell aus, daß der Staat zu kollabieren drohe. Gerade die spärlich bevölkerten Regionen Malis gerieten bei den immer wieder ausbrechenden Konflikten des Vielvölkerstaats zunehmend unter den Einfluß extremistischer Organisationen, oftmals gar mit dem wohlwollenden Einverständnis der dortigen Bewohner. Mit dem Abbau von Gold und anderen wertvollen Ressourcen der Regionen finanzierten Gruppierungen wie die JNIM und die ISIS-GS ihre Waffen und Fahrzeuge. Einen weiteren Teil der Einnahmen investierten die Islamisten überdies in die lokale Infrastruktur, um sich das Vertrauen der Einheimischen zu erkaufen. 

Seit Juni 2013 ist Deutschland Teil der Minusma-Operation, die im Norden und Osten des Landes zur Bekämpfung terroristischer Bewegungen beitragen soll. Derzeit sind gut 1.000 Soldaten der Bundeswehr in der Region stationiert. Der Militäreinsatz gegen die Islamisten gilt als hochgradig gefährlich: Die Friedenstruppen der Vereinten Nationen zählen bislang fast 240 Verluste, darunter auch zwei deutsche Soldaten. Erst Ende Juni verübte ein Attentäter der JNIM einen verheerenden Selbstmordanschlag auf eine deutsche Aufklärungskompanie, bei dem zwölf Bundeswehrsoldaten sowie ein belgischer Soldat zum Teil schwer verletzt wurden. 

Trotz kleiner Fortschritte ist ein Ende des Militäreinsatzes noch längst nicht in Sicht. Seit August 2014 setzt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich über 5.000 Soldaten in Mali sowie in den vier angrenzenden Sahelstaaten Burkina Faso, Niger, Tschad und Mauretanien ein. Der Einsatz ist in der Bevölkerung dieser Länder höchst umstritten, denn die zunehmende Zahl von Anschlägen auf französische Truppen kostet oftmals auch Zivilisten das Leben. Erst diesen Februar lösten malische Sicherheitskräfte gewaltsam eine Demonstration Tausender Oppositioneller auf, die in Bamako gegen Frankreichs Operation Barkhane protestierten. „Nach acht Jahren der Intervention sehen wir einen totalen Fehlschlag“, führte der Berater Adama Diarra gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters aus. „Wir verlangen den Abzug der französischen Truppen.“

Le Pen befürchtet Anschläge und neue Flüchtlingswelle

Zum schwelenden Bürgerkrieg, den auch die internationalen Truppen nicht einzudämmen vermochten, kam im August 2020  noch eine politische Krise hinzu: Teile der Regierungstruppen, die von der Minusma-Mission ausgebildet worden waren, sorgten mit einem Putsch für die Absetzung des damaligen Präsidenten Ibrahim Keïta und errichteten eine Militärjunta. Deren Übergangspräsident, der für das Frühjahr 2022 freie Wahlen versprach, wurde zwischenzeitlich ebenso weggeputscht. 

Auf eine legitime Regierung als Reaktion auf separatistische sowie islamistische Bewegungen kann Mali längst nicht mehr verweisen. „Es besteht kein Zweifel, daß diese Situation zu einem erhöhten Risiko von Anschlägen in unseren Ländern und zu neuen Einwanderungswellen führen wird“, warnte Marine Le Pen, die Vorsitzende der französischen Partei Rassemblement National, nach dem Fall Kabuls an die Taliban. 

„Auch wenn der Islamismus jetzt in Syrien eingedämmt ist, wird der Zusammenbruch der afghanischen Front die islamistische Offensive in der Welt begünstigen, beginnend mit Afrika südlich der Sahara, das nun von der Errichtung eines Kalifats von Mali bis Nordkamerun bedroht ist.“ 

Die Staatengemeinschaft habe auf diese Bedrohung mit einem breit gestreuten Bündnis zwischen Europa, Rußland, China und den muslimischen Staaten zu begegnen, um „diese erobernde und verbrecherische Ideologie auszurotten“.

Foto: Soldaten aus Mali und Frankreich: Gemeinsam wollen sie die Sahelzone sichern