© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

„Rußland hilft auf jeden Fall“
Litauen: Mit dem Bau eines 550 Kilometer langen Grenzzaun will sich das Land vor illegalen Migranten schützen
Filip Gaspar

Der Besuch am geschlossenen litauischen Grenzübergang Padvarionys in Richtung Weißrußland ist gespenstisch. Ein 1,80 Meter hoher Grenzzaun mit Stacheldraht an der Spitze breitet sich nach links und rechts aus. Infrarotkameras haben die Umgebung im Blick. Ein Ort, passend für Politiker aus Westeuropa, um ihnen die Dramatik der Situation vor Augen zu führen. Anfang Juli war bereits EU-Ratspräsident Charles Michel in Begleitung von Litauens  Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė zu Besuch. 

„Wir verurteilen alle Versuche, die illegale Migration zu instrumentalisieren, um Druck auf die EU-Mitgliedstaaten auszuüben“, erklärte der liberale Belgier. Im Namen der EU-Kommission verurteilte er, daß Weißrußland Litauen mit Migranten „unter Druck“ setze. Litauen könne sich auf „volle Unterstützung und Solidarität durch die Mobilisierung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex und den Dialog mit Ländern verlassen, die an Rückführungs- und Rückübernahmeverfahren beteiligt“ seien. 

„Der Migrationsstrom wird durch kontrollierte Einreisen mit Touristenvisa oder auf der Grundlage der visafreien Einreise nach Weißrußland und durch erleichterte Bewegungen in Richtung der litauisch-weißrussischen Grenze gespeist“, erklärt Frontex die Situation.

Die Migranten kommen direkt mit dem Flugzeug aus Bagdad nach Minsk, wo ihnen ein drei Monate gültiges Touristenvisum ausgestellt wird. Zwei Drittel waren irakischer Herkunft, gefolgt von Staatsangehörigen aus der Republik Kongo und Kamerun. Laut litauischen Angaben befinden sich derzeit zirka 4.100 Migranten im Land, darunter bis zu 25 Prozent Frauen und Kinder. 

Abseits der offiziellen Grenzübergänge drängen die litauischen Grenzschützer immer wieder aus Weißrußland eindringende Migranten zurück in ihr Nachbarland. Doch die Weißrussen verwehren diesen auch wieder die Einreise, was dazu führt, daß die Migranten sich in einem Niemandsland zwischen den beiden Ländern aufhalten. Ein litauischer Grenzschützer berichtet, daß dieses sich wiederholende Nervenspiel so lange anhalte, bis eine Seite nachgebe.

Litauen rechnet mit bis zu 10.000 illegalen Migranten 

Unterstützt werden die litauischen Grenzbeamten durch 100 Frontex-Beamte, 30 Streifenwagen und zwei Hubschrauber. Dazu sollen Frontex-Experten des Europäischen Zentrums für Rückführung Informationen über die von der Agentur koordinierten Rückführungsmaßnahmen „austauschen und eine mögliche Unterstützung durch Frontex  diskutieren“. 

Um der Lage Herr zu werden, beschloß Litauens Parlament parteiübergreifend den Bau eines 150 Millionen Euro teuren und 550 Kilometern langen Grenzzaunes. Die Bauarbeiten dafür haben bereits vor mehr als sechs Wochen begonnen und sollen bis Jahresende abgeschlossen sein. 

Litauen bat in diesem Zusammenhang um finanzielle Unterstützung aus Brüssel für Stacheldraht, Materialen für Grenzbefestigungen, erhielt jedoch eine negative Antwort. 

Statt dessen verkündete EU-Innenkommissarin Ylva Johansson, Litauen 36,7 Millionen Euro aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds an Soforthilfen zur Verfügung zu stellen, um die Aufnahmekapazitäten und die medizinische Versorgung vor Ort zu verbessern.

Ein Problem dabei: Über ein Viertel der Angekommenen geben sich als minderjährig aus. Ihre Angaben zu überprüfen erweist sich als schwierig, da die meisten keine Ausweisdokumente mit sich führen. Auch die Unterbringung der Migranten in provisorischen Lagern ist für ein kleines Land wie Litauen mit seinen knapp 2,7 Millionen Einwohnern eine schwere Bürde. Zudem rechnet Litauens Innenministerin Agne Bilotaite angesichts der Entwicklung in Afghanistan  mit bis zu 10.000 irregulären Migranten bis Ende des Jahres.

Angesichts solcher Zahlen schlägt der konservative Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei Vaterlandsbund, Kęstutis Masiulis, im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT Alarm: „Die illegale Migration nach Litauen wird von der weißussischen Regierung organisiert. Rußland hilft auf jeden Fall. Das eigentliche Ziel der Migranten sind jedoch Deutschland, Frankreich und Skandinavien. Migration ist aus einer historisch günstigen Einstellung zur Migration und einer großzügigen sozialen Unterstützung für Migranten entstanden. Vielleicht sollten die Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union diese Migrationspolitik ändern.“

Die Zeit drängt. Denn Lukaschenko setzt weitere Länder unter Druck, wie sich an Litauens Nachbarland im Norden Lettland sehen läßt. Das kleine Land hat bis zum 6. August bereits 214 illegale Migranten registriert, 2020 waren es gerade mal 55.

Foto: Auffanglager nahe der Grenze zu Weißrußland: Gutgelaunte Iraker lächeln in die Kamera