© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Düstere Bilanzen
Deutschlands Afghanistan-Engagement: Eine Politik von Transatlantiktreue, Fehlinterpretationen und langjährigen Durchhalteparolen fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen
Curd-Torsten Weick

Schon die 60-Mann-Expedition nach Afghanistan unter Leitung des Generalstabsoffiziers Oskar von Niedermayer im August 1915 hatte wenig Glück. Die Übermacht der Briten und Russen war überwältigend und der deutsche Einfluß blieb gering. Dennoch unterzeichnete Afghanistans Emir Habibullah Khan im Januar 1916 den deutsch-afghanischen Freundschaftsvertrag, der umfangreiche Waffenlieferungen sowie Finanzhilfen versprach. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg signalisierten die USA der Bundesrepublik , daß sie, anknüpfend an ihre historischen Freundschaftslinien zu Afghanistan, transatlantische Verantwortung übernehmen müßte. Bonn folgte gern und schon im Jahr 1955 wurden die bilateralen Beziehungen wieder aufgenommen. Ab 1958 leistete Bonn Entwicklungshilfe, gab Kredite, schickte Fachleute für den Aufbau des Landes und half mit Finanz- und Materialhilfe  beim Auf- und Ausbau der afghanischen Polizei. Höhepunkt war das ambitionierte Entwicklungsprojekt in der Provinz Paktia in den sechziger und siebziger Jahren. In dessen Hochphase kümmerten sich dort mehr als 120 Experten um Straßenbau, Energieversorgung und Aufforstung. Nichts blieb übrig. Die Bäume sind gefällt, die Felder verwüstet.

2001 bewies Deutschland im „Kampf gegen den Terror“ erneut transatlantische Solidarität. Das Afghanistan-Engagement war laut Bundesregierung der „umfangreichste zivil-militärische Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik“. Berlin ist  zweitgrößter bilateraler Geber und zahlte jährlich 250 Millionen Euro für Entwicklung und 180 Millionen für die „zivile Stabilisierung“. In Afghanistan fielen seit 2003 insgesamt 35 deutsche Soldaten; 24 starben durch Unfälle oder eines natürlichen  Todes. Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kostete nach Angaben des ARD-Hauptstadtstudios 12,5 Milliarden Euro.





Chronik von 20 Jahren „uneingeschränkter Solidariät“ mit der Nato und den USA sowie der zivilgesellschaftlichen bundesdeutschen Außenpolitik 

12. September 2001

Nach den Anschlägen vom 11. September sichert Kanzler Gerhard Schröder (SPD) den USA die „uneingeschränkte Solidarität“ der Bundesrepublik Deutschland zu.

16. November 2001

Schröder verknüpft die Entsendung von 3.900 Soldaten für den von den USA angeführten Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan mit der Vertrauensfrage. Von 662 Abgeordneten stimmen 336 mit „Ja“ (zwei Stimmen mehr als die erforderliche absolute Mehrheit).

5. Dezember 2001

Die erste Petersberger Afghanistan-Konferenz präsentiert einen Fünf-Punkte-Plan für den politischen Übergang in Afghanistan

22. Dezember 2001

Außenminister Joschka Fischer (Grüne) erklärt, daß „wir ohne die militärische Zerschlagung der terroristischen Strukturen von al-Kaida, ohne Beseitigung des Taliban-Regimes heute nicht diese Situation hätten, sondern die humanitäre Katastrophe auch in den kommenden Jahren und die schweren Menschenrechtsverletzungen sowie vor allen Dingen die Unterdrückung der Rechte der Frauen und Mädchen weiter angedauert hätten“.

22. Januar 2002

In Tokio tagt eine Geberkonferenz für Afghanistan, die Wiederaufbauhilfen in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar zusagt. Zuständig für den Aufbau der Polizei: Deutschland.

24. Oktober 2003

531 von 593 Bundestagsabgeordneten stimmen für die Aufstockung des Bundeswehrkontingents in Kundus auf bis zu 2.250 Soldaten. 

20. April 2006

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zieht eine positive Bilanz: „Seit dem Beginn des Friedensprozesses im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn hat Afghanistan eine eindrucksvolle Entwicklung vollzogen.“

12. April 2008

Der Wiederaufbau Afghanistans brauche „mehr Zeit und Geduld, aber auch weiterhin eine militärische Absicherung“. Oder wollen wir zulassen, daß Afghanistan, das in der Vergangenheit durch seine „innere Zerrissenheit der Nährgrund für die menschenverachtende Schreckensherrschaft der Taliban und den Al-Kaida-Terrorismus“ gewesen sei, „noch einmal in Anarchie“ abgleitet, fragt Staatsminister Gernot Erler (SPD).

3. Mai 2008

Ex-Außenminister Joschka Fischer fordert gegenüber dem Berliner Tagesspiegel die Ausweitung des Einsatzes der Bundeswehr auch im Süden Afghanistans. 

10. Februar 2010

Laut Außenminister Guido Westerwelle (FDP) ergibt eine „ehrliche Bestandsaufnahme“ eine „gemischte Bilanz unserer bisherigen Anstrengungen“. „Im letzten Jahr hat sich die Sicherheitslage erneut verschlechtert. Afghanistan versorgt noch immer rund 90 Prozent des Weltmarktes mit Opium. Längst nicht alles in Afghanistan ist heute so, wie wir es uns vor acht Jahren erhofft hatten.“

2. Dezember 2011

„Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, aus Afghanistan eine Art Schweiz Vorderasiens zu machen. Die Kultur, die Traditionen und die politischen Strukturen in dem Land sind andere“, zieht Westerwelle eine düstere Bilanz.

30. August 2015

Außenminister Steinmeier lobt das deutsche Engagement: „Seit dem Ende des Taliban-Regimes hat sich in Afghanistan das Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdoppelt. Viele Mädchen und Jungen können zur Schule gehen.“ Deutschland werde Afghanistan weiter unterstützen, im „zivilen Bereich ebenso wie bei der Ertüchtigung der afghanischen Sicherheitskräfte.“

13. Juli 2017

Bei seinem Besuch in Camp Marmal (Masar-e Scharif) zeigt sich Bundespräsident Steinmeier „ernüchtert“: „Wir müssen uns eingestehen, daß sich manche unserer Transformationshoffnungen von damals als zu optimistisch erwiesen haben. Auch „unsere Möglichkeiten, von außen Einfluß zu nehmen“, hätten ihre Grenzen gehabt.

16. März 2020

Bundespräsident Steinmeier gratuliert Afghanistans Präsidenten Ashraf Ghani zu seiner zweiten Amtszeit: „Die laufenden Bemühungen um einen Friedensprozeß sind ermutigend.“ 

4. März 2021

Mit markigen Worten wirbt Außenminister Heiko Maas (SPD) für die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr: „Die internationale Truppenpräsenz bleibt dabei einer unserer wichtigsten Hebel. Ohne internationalen Druck werden sich die Taliban nicht ernsthaft auf eine politische Lösung einlassen. Wenn wir unsere Soldaten überstürzt abziehen, dann droht die ernste Gefahr, daß die Taliban eine Lösung auf dem Schlachtfeld suchen (...). Den Preis wollen wir nicht zahlen.“

25. März 2021

Der Bundestag stimmt der Fortsetzung der Bundeswehrbeteiligung an dem Nato-geführten Einsatz bis zum 31. Januar 2022 mit 432 gegen 176 Stimmen zu. 

14. April 2021

Der Nato-Rat beschließt das Ende der Mission „Resolute Support“ in Afghanistan. Auch für die Bundeswehr endet der „intensivste und verlustreichste Einsatz in ihrer Geschichte“. „Wir verlassen Afghanistan mit Stolz. Wir haben alle Aufträge erfüllt, die uns vom Parlament gegeben wurden“, zieht Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) eine positive Bilanz des deutschen Engagements.

23. Juni 2021

Außenminister Maas würdigt das deutsche Engagement: „Vor allem die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, daß es ein Zurück ins Jahr 2001 nicht geben wird. Dagegen steht auch eine afghanische Zivilgesellschaft, die in dieser Zeit immer selbstbewußter geworden ist, die vielleicht von der einen Ecke dieses Hauses noch nicht erkannt worden ist, aber trotzdem entstanden ist und sich sehr selbstbewußt ihrer Rechte bewußt ist – die vielleicht größte, in jedem Fall aber die nachhaltigste Errungenschaft der letzten zwei Jahrzehnte.“ Zudem verfüge Afghanistan über eigene Sicherheitskräfte, „übrigens nicht zuletzt dank des großen Engagements im Rahmen unseres bilateralen Polizeiprojektes“, jubiliert der SPD-Politiker.

30. Juni 2021

Die Bundeswehr fliegt letzte Soldaten aus Afghanistan aus.

8. August 2021

Fünf Provinzhauptstädte sind inzwischen an die Taliban gefallen, darunter Kundus, in dessen Nähe das Feldlager der Bundeswehr lag.

14. August 2021

Angesichts der Machtübernahme der Taliban kündigte Ministerin Kramp-Karrenbauer an, die geplante Auftaktveranstaltung zur Bilanzierung des Afghanistaneinsatzes, den Abschlußappell und den Großen Zapfenstreich auf dem Platz der Republik zu Ehren der 160.000 eingesetzten Soldaten zu verschieben. „Die volle Aufmerksamkeit gilt der Evakuierung der zu Schützenden“, so die CDU-Politikerin.

Foto: Bundeswehr-Kolonne im Marmal-Gebirge bei Masar-e Scharif (Juli 2008) bei einer Übung: Alle militärischen  Bemühungen werden nach 20 Jahren in Frage gestellt