© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Schonungslos standhaft
„Warum denn sachlich, wenn es auch persönlich geht?“ lautet das Motto des Publizisten Henryk M. Broder. An diesem Freitag feiert er seinen 75. Geburtstag
Thilo Sarrazin

Henryk M. Broder trat spät in mein Leben. Genau gesagt am 10. September 2009 um 14.10 Uhr. Da betrat ich nämlich im Frankfurter Hauptbahnhof mein Abteil im ICE nach Berlin. Dort saß schon ein älterer Herr in khakifarbener praktischer Reisekleidung – in der Gepäckablage über sich ein umfänglicher Rucksack.

Wir kamen ins Gespräch. Er war gerade von einer Indienreise zurückgekehrt und hatte im Frankfurter Flughafen in einer Zeitung mein Bild gesehen. Ein Interview von mir über „Berlin – 20 Jahre nach dem Mauerfall“ hatte öffentliches Mißfallen erregt. Dort war das Wort „Kopftuchmädchen“ gefallen, und als Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank war ich in Schwierigkeiten. Die Natur dieser Schwierigkeiten offenbarte sich in einigen Anrufen, die ich während der gemeinsamen Zugfahrt entgegennahm. Ich erzählte Henryk M. Broder die ganze Geschichte. Er hörte ruhig zu, ohne Wertung, ohne Unterbrechung. Aus dem Zug stellte er telefonisch sogleich einen Kontakt her, der mir vielleicht nützlich sein konnte. 

Die vier Stunden Bahnfahrt vergingen in ununterbrochenem Gespräch, und ich merkte, daß ich einen Seelenverwandten getroffen hatte. Wir liebten beide Deutschland und die deutsche Sprache und sorgten uns um dieselben Fehlentwicklungen. Ich hatte damals noch keine Zeile von Broder gelesen, das holte ich in den folgenden Wochen und Monaten nach. Ob er je meine frühen Werke über Staatsverschuldung und Währungsregime zur Kenntnis genommen hat, weiß ich nicht; es ist wohl unwahrscheinlich. Aber seit dieser vierstündigen Zugfahrt war er ein genauer Leser und kritischer Kommentator aller meiner Publikationen und sonstigen öffentlichen Äußerungen.

Meine Waffe war stets die Statistik, die Tatsachenorientierung und das logische Argument. Broders Waffe war und ist die scharfsinnige Analyse unübersichtlicher, auch verlogener Verhältnisse und deren Entlarvung durch Satire und Ironie, oft polemisch zugespitzt. 

So hat er sich einen großen journalistischen Ruf erworben, für viele wurde er auch zu einer Haßfigur. Die publizistische Plattform „Achse des Guten“ ist seine Gründung (2004, zusammen mit Dirk Maxeiner und Michael Miersch), und auch heute noch prägt er sie maßgeblich. Sie gibt vielen eine Stimme, die in der heutigen Medienwelt sonst gar nicht oder nicht in angemessenem Umfang zu Wort kämen, und bildet ein wichtiges Stück Gegenmacht in einem publizistischen Umfeld, das insgesamt immer linker und immer enger wird.

Broders publizistischer Antrieb und die Themen, die ihn umtreiben, lassen sich von seiner Herkunft nicht trennen. Am 20. August 1946 im oberschlesischen Kattowitz geboren, als Kind polnischer Juden, die nur haarscharf dem Holocaust entkamen, kam er im Alter von elf Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Er erlebte noch den Mief der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre und ging zunächst politisch ins Linke und Antiautoritäre. Schon bald aber entwickelte er ein Gespür für linke Selbstgerechtigkeit, Heuchelei und neue Formen des Antisemitismus, die sich als linker Antizionismus tarnten. Zehn Jahre lang, bis Anfang der Neunziger, lebte er in Israel. Broder geißelt immer wieder eine spezifisch deutsche Tendenz, sich wegen der Ursünde des Holocausts zum Richter über andere zu machen und so quasi eine neue moralische Weltherrschaft anzutreten.

Henryk M. Broder schonte und schont niemanden, wenn er irgendwo Heuchelei entdeckt. In einem Streitgespräch mit Michel Friedman hatte ich einmal im August 2010 auf eine Polemik von ihm entnervt und spontan geantwortet: „Herr Friedman, jetzt sind Sie aber wirklich ein Arschloch.“ Das schlug Wellen. Broder erklärte am nächsten Tag öffentlich: „Sarrazin hat unrecht, Friedman ist kein Arschloch, er ist ein selbstverliebtes Riesenarschloch.“ Dankbar nahm ich diese Unterstützung an und habe seitdem bis heute den öffentlichen Gebrauch solcher Kraftausdrücke vermieden.

Hinter Broders publizistischer Rastlosigkeit und seiner oft polemischen Schärfe verbirgt sich ein sensibler Charakter, der häufig Angst um Deutschland hat. Er sieht dunkle Wolken über der freiheitlichen Republik, in die seine Eltern mit ihm 1957 auswanderten. Wenn wir in einem Café zusammensitzen, spiele ich bisweilen den Advocatus Diaboli und lobe die deutschen Verhältnisse. So reifen wir beide an seinem Widerspruch und genießen dann einvernehmlich die Komik des Absurden.

Wenn ich Henryk M. Broder zu seinem 75. Geburtstag etwas wünschen darf, so wäre dies neben stets guter Gesundheit mehr Distanz und Optimismus. Davon aber auch nicht zuviel. Denn dann wäre Broder nicht mehr Broder.

Henryk M. Broder: Das ist ja irre! Mein deutsches Tagebuch. Penguin, München 2017, broschiert, 352 Seiten, 10 Euro

Henryk M. Broder: Kritik der reinen Toleranz. Pantheon, München 2009, broschiert, 224 Seiten, 14 Euro

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Pantheon, München 2007, broschiert, 176 Seiten, 12 Euro

Foto: Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin auf dem Weg zur Frühjahrstagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie in Tutzing (Archivfoto 2011)