© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Ein langer Film über das Töten
Episodendrama: „Doch das Böse gibt es nicht“ gewährt Einblicke in den Alltag des iranischen Mullah-Regimes
Dietmar Mehrens

Ein kurzer Film über das Töten“ war der Titel, unter dem der fünfte Teil der Dekalog-Reihe von Krzysztof Kieślowski 1988 in die Kinos kam. Die Verfilmung des fünften Gebots „Du sollst nicht töten“ errang zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Europäischen Filmpreis. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Polen, der einen Taxifahrer tötet, gefaßt und hingerichtet wird. 

„Doch das Böse gibt es nicht“ von dem iranischen Regimekritiker Mohammad Rasoulof wandelt auf den Spuren der polnischen Regie-Legende. Rasoulof hat Kieślowskis filmische Reflexion in den Iran der Gegenwart überführt und gleich vier Filme daraus gemacht. Zusammen ergeben sie ein zweieinhalbstündiges Episodendrama, das faszinierend facettenreich ist, obschon ein und dasselbe Thema sie alle eint: das Damoklesschwert des Todes, das über den Protagonisten schwebt und dem es durch List, Opfer oder Konformismus zu entgehen gilt.

Den Auftakt bildet eine eher undramatische Momentaufnahme aus dem iranischen Alltag: Mit stoischer Ruhe folgt die Kamera einer gewöhnlichen Mittelstandsfamilie durch den Tag. Man staunt über volle Supermarktregale und ahnt, daß der stille Herr Heshmat sich irgendwie mit dem totalitären Mullah-Regime arrangiert hat.

Der zweite Film trägt den Titel „Sie sagte: ‘Du schaffst es’“ und führt mitten hinein in ein Dilemma mit den Ausmaßen einer griechischen Tragödie: „Bei Gott, ich kann doch nicht einem Menschen das Leben nehmen“, klagt der Wehrdienstleistende Pouya. Er verbringt eine schlaflose Nacht in der Gemeinschaftsunterkunft, weil er dazu ausersehen wurde, eine Hinrichtung auszuführen. Solche Sonderdienste gehören zu den vielen Schattenseiten des persischen Militärdienstes. Viele Iraner melden sich trotzdem dazu, weil sie sonst keinen Reisepaß erhalten. Der ist oft die Eintrittskarte in eine bessere Zukunft. „Hier wird niemand ohne Grund hingerichtet“, verteidigt ein Kamerad die inhumane Regelung. Ein schwacher Trost, wenn man weiß, was im Iran Grund genug für ein Todesurteil ist. Und das unmoralische Angebot eines anderen Soldaten, die Exekution gegen ein saftiges Entgelt zu übernehmen, findet Pouya auch nicht sehr erleichternd. Schließlich setzt der junge Mann alles auf eine Karte.

Eine böse Überraschung erlebt in der dritten Episode „Geburtstag“ der junge Soldat Javad, der seiner Freundin Nana zu deren Geburtstag einen Heiratsantrag machen möchte und dazu eigens Urlaub genommen hat. Die letzte Episode heißt „Küß mich“ und kreist um eine verborgene Wahrheit, die der Arzt Bahram, der eine abgelegene Hütte in den Bergen bewohnt, seiner im Westen aufgewachsenen Nichte enthüllen muß. Jeder der vier Kurzfilme bewegt sich auf einen emotionalen Siedepunkt zu, der den Zuschauer kalt erwischt.

Jeder Drehtag konnte mit einer Festnahme enden

Regisseur Rasoulof darf den Iran nicht verlassen. Und Filme drehen darf er, der laut Gerichtsurteil  „Propaganda gegen die muslimische Regierung“ verbreitet, eigentlich auch nicht. Die vier zu einem langen Film über das Töten montierten Episoden wurden möglich durch vier unter falschen Namen beantragte Einzeldrehgenehmigungen und entstanden unter großem Streß: Jeder Drehtag konnte mit einer Festnahme enden. Der seelische Druck, der auf der Filmmannschaft lastete, hat sich als buchstäblich unheimliche Spannung auf viele Filmszenen übertragen. 

„Doch das Böse gibt es nicht“ ist das bedrückende und beeindruckende Porträt eines Staates, den die westliche Staatengemeinschaft durch ein umstrittenes Atomabkommen in den Rang eines respektierten Gesprächspartners hieven wollte, der dieser Ehre aber nicht würdig ist. Rasoulof zeigt ihn als Bestie, die mit menschlichem Antlitz zu Tisch sitzt, den zivilisierten Tischnachbarn freundlich zuprostet und eine Etage tiefer eine Folterkammer betreibt, in der Menschenrechte keinen Pfifferling wert sind. Der Mut des Filmemachers wurde bei der Berlinale 2020 verdientermaßen mit dem Goldenen Bären belohnt.

Kinostart ist am 19. August 2021

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