© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Entschleunigter Fußmarsch
Dokumentarfilm: „Chaddr – Unter uns der Fluß“ im Kino
Claus-M. Wolfschlag

Einst war Ladakh ein buddhistisches Königreich. Das in der Himalaya-Region gelegene Land geriet im Mittelalter politisch und kulturell unter tibetischen Einfluß, weshalb es heute noch als „Klein-Tibet“ bezeichnet wird. Im 19. Jahrhundert konnte das Land fremdländischen Expansionsbestrebungen, unter denen es immer zu leiden hatte, gar nichts mehr entgegensetzen. Es verschwand als Teil Kaschmirs von der Landkarte und geriet mit dem Süden Kaschmirs 1947 in den indischen Staatsverband. Erst 2019 gliederte die BJP-Regierung unter Ministerpräsident Narendra Modi das Land wieder aus „Jammu und Kaschmir“ heraus. Ladakh entstand nach fast 200 Jahren der Nicht-Existenz wieder als eigenständiges indisches Unionsterritorium.

Dieses rauhe, dünn besiedelte Land bildet die Kulisse für den Dokumentarfilm des südkoreanischen Regisseurs Minsu Park. Die Hauptfiguren sind die 18jährige Schülerin Tsangyang und ihr Vater. Jener ist Lehrer in Tsangyangs Heimatdorf, das abgelegen in dieser Grenzregion zu China und Pakistan liegt. Tsangyang besucht seit vielen Jahren ein Internat in der ladakhischen Hauptstadt Leh. Studieren und Software-Entwicklerin werden möchte sie, und die anstehenden Abschlußprüfungen entscheiden über das weitere Schicksal von ihr und ihrer Familie. Karg leben die Mädchen in Gruppenschlafräumen mit Stockbetten, und doch sind westliche Einflüsse durch Medien und Mode unübersehbar. 

Seit der ersten Klasse begleitet sie ihr Vater während der Ferien zweimal im Jahr auf dem langen Fußweg in das entlegene Heimatdorf. Dort erwartet sie die sich einsam fühlende und kränkelnde Mutter. Mehrere Tage dauert der Marsch stets. Nun absolvieren sie die letzte Wanderung vor den Prüfungen. Der Weg ist beschwerlich und zunehmend gefährlich, führt er doch entlang des Chaddr-Flusses, der durch klimatische Erwärmungen immer weniger vereist, somit kaum noch begehbar ist. Die beiden können sich oft nur noch am Flußufer oder über Pässe entlanghangeln, um auf abenteuerliche Weise ihr Ziel zu erreichen. 

„Chaddr – Unter uns der Fluß“ ist das Gegenteil des weit verbreiteten schnellen, actionreichen Kinos. Der Film ist sehr langsam erzählt. Fast tagträumerisch wird der Betrachter durch die beeindruckende Berglandschaft geführt. Dieses Werk der Entschleunigung spricht dabei eher beiläufig die gesellschaftlichen Probleme auch solch entlegener Regionen an: klimatische Veränderungen, Abwanderung der Jungen in die Metropolen, Kulturverlust durch Verwestlichung.

Kinostart ist am 19. August 2021