© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Der lange Vorlauf des antiweißen Rassismus
Verblendung und Schuldkomplex
Thorsten Hinz

Der antiweiße Rassismus, der heute unter dem Titel „Identitätspolitik“ durch die westlichen Länder tobt, hat einen langen und selbstverschuldeten Vorlauf. Auch in dem Fall stellt der Erste Weltkrieg sich als die „Urkatastrophe“ (George Kennan) heraus. Knapp 15 Jahre nach seinem Ende zog Oswald Spengler eine Bilanz: „Die weißen Herrenvölker sind von ihrem einstigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer Macht verloren und merken es nicht einmal.“

Das Wort „Herrenvölker“ wirkt heute mißverständlich und anachronistisch, sofern es den Anspruch auf fortgesetzte globale Vorherrschaft ausdrückt. Nichts war dagegen zu sagen, daß die kolonisierten Völker sich von den europäischen Kolonialmächten freimachen und ihren eigenen Weg bahnen wollten. Was hatten die Briten für ein Recht, über Indien zu herrschen? Die Franzosen und Belgier über ein Drittel Afrikas? Die Holländer über Indonesien? Doch Spengler blickte tiefer: Er hatte Zweifel, ob die Europäer die Kraft aufbringen würden, sich als Herren im eigenen, im europäischen Haus zu behaupten. Er sah die Gefahr, daß in den fortgeschrittenen Ländern der Klassenkampf sich mit dem Rassenkampf verbinden würde: „Die farbige Gesamtrevolution der Erde schreitet unter sehr verschiedenen Tendenzen vor, nationalen, wirtschaftlichen, sozialen (…) religiöse Momente treten hinzu: der Haß gegen das Christentum oder gegen jede Art von Priestertum und Orthodoxie überhaupt, gegen Sitte und Brauch, Weltanschauung und Moral.“

Tatsächlich hatten die Bolschewiki und die kommunistische Weltbewegung von Anfang an die Kolonialvölker als ihre natürlichen Verbündeten betrachtet. Im Westen entdeckte in den 1960er Jahren die Neue Linke die Bewohner der Dritten Welt als revolutionäre Kraft, nachdem die heimische Arbeiterklasse durch Teilhabe am Wohlstand befriedet und an der proletarischen Revolution nicht mehr interessiert war. In Wahrheit wußte die Linke kaum etwas über ihre Schützlinge. Sie betrachtete sie als Werkzeuge der eigenen, westlich-weißen Ambitionen und Utopien.

Doch „das kolonisierte Ding (wurde) Mensch“ (Frantz Fanon) und emanzipierte sich in einer Weise, die ihren Gesellschaftstheorien zuwiderlief. Indem dieses neue Subjekt seine politischen und sozialen Ansprüche identitär begründet, erhebt es seine Ethnie, Rasse und Colorierung zur entscheidenden Kategorie, was im klaren Widerspruch zum westlichen Fortschrittsglauben steht. Der politisch-mediale Komplex versucht ihn im Zeichen eines metaphysischen westlichen Schuldkomplexes aufzulösen, der als Ausweg einzig den „weißen“ Selbsthaß zuläßt. Dieser verbindet sich mit dem – nochmals Spengler – fremden „Haß gegen die weiße Rasse“. Ob er bis zum „unbedingte(n) Wille(n), sie zu vernichten“ reicht, sei dahingestellt. Bestimmte Äußerungen aus der „Black Lives Matter“-Bewegung weisen durchaus in diese Richtung.

Diese Entwicklung im ehedem monochromen Europa wurde möglich durch die Selbstzerfleischung des Alten Kontinents. Im Ersten Weltkrieg lösten die Westmächte eine stille antieuropäische Revolution aus, als sie farbige Hilfsvölker gegen das Volk in der Mitte Europas mobilisierten. Großbritannien brachte neben den Soldaten aus seinen weißen Dominions – Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika – auch Hilfstruppen aus Indien und Nepal, die sogenannten Gurkhas, zum Einsatz. Frankreich bot Truppen aus Indochina und vor allem Afrika auf. Auch in früheren Kriegen hatten die europäischen Mächte koloniale Hilfstruppen gegen ihre Gegner in Marsch gesetzt, doch das war – abgesehen vom Krimkrieg – außerhalb des eigenen Kontinents gewesen. Insgesamt kamen auf französischer Seite Schätzungen zufolge rund eine halbe Million Soldaten und etwa 220.000 Arbeiter kriegsbedingt nach Europa (so der Schweizer Historiker Christian Koller).

Eine wichtige Rolle bei der Rekrutierung spielte der Senegalese Blaise Diagne, der 1914 als erster Schwarzafrikaner in die Französische Nationalversammlung gewählt worden war. Im Krieg wurde er zum Hochkommissar für Rekrutierungen in Schwarzafrika ernannt. Noch im letzten Kriegsjahr, 1918, hob er 77.000 Afrikaner für die französische Armee aus. Die Hunderttausenden Männer, die an der Front oder in der Industrie zum Einsatz kamen, fühlten sich ermächtigt, Gegenleistungen zu fordern. Dazu gehörte das Versprechen, ihnen die französische Staatsbürgerschaft zu verleihen.

Der Einsatz von Nichteuropäern gegen ein europäisches Nachbarvolk sorgte für Irritationen. Thomas Mann schrieb: „Man glaubt, ein Recht zu haben, auf Deutschland Kirgisen, Japaner, Gurkas und Hottentotten loszulassen – eine Beleidigung, beispiellos, ungeheuerlich ...“ Diese Handlungsweise gegen „das heute wichtigste Volk Europas ist nicht statthaft, sie ist strafbar und muß sich rächen“. Das sahen viele in Frankreich, Großbritannien und den USA, wo die Rassentrennung Usus war, ganz ähnlich. Dennoch wurde die Praxis nach dem Krieg zur Machtdemonstration und Demütigung der Unterlegenen fortgesetzt, was als „schwarze Schmach“ empfunden wurde.

Der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert äußerte 1923 in öffentlicher Rede, „[d]aß die Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation ist“. Tatsächlich eröffnete sie den Afrikanern die Aussicht, daß die Machtverhältnisse zwischen Schwarz und Weiß sich generell umkehren ließen. Die Afrikaner und Asiaten spürten die Abhängigkeit der Mutterländer und entsprechend das eigene Machtpotential. Der Nimbus europäischer Überlegenheit hatte einen irreparablen Schaden genommen.

Nichtsdestotrotz bildete er nach dem Zweiten Weltkrieg in modernisierter und geläuterter Form die Grundlage der westeuropäischen Einwanderungspolitik. Was heißt: Die Vorstellung einer Integration von Millionen außereuropäischer Kulturangehöriger in die europäischen Gesellschaften war von Anfang an auf Sand gebaut. Der Semiotiker Roland Barthes (1915–1980) beschrieb in dem 1957 erschienenen Klassiker „Mythen des Alltags“ indirekt das Illusorische dieser Annahme. Er dechiffrierte eine Titelseite der Zeitschrift Paris Match von 1955, die einen jungen Afrikaner (Barthes schrieb: Neger) in französischer Armeeuniform zeigt, der den militärischen Gruß erweist. Sein konzentrierter Blick ist auf etwas gerichtet, das außerhalb des Bildes liegt. Es liegt nahe, daß er auf die Trikolore schaut. Die Präsenz des Afrikaners, schreibt Barthes, sei in Wahrheit „domestiziert, abgedrängt“. Er sei seiner „Geschichte beraubt, in Gesten verwandelt“ worden. Tatsächlich erzählt das Foto nichts von seiner Herkunft, der Geschichte seiner Familie und seines Stammes, nichts von den Mythen und Erinnerungen, die in ihm schlummern. Seine Person wird definiert durch die Uniform und durch die Huldigungsgeste an den französischen Staat und die „französische Imperialität“.

Zu beachten ist der historische Kontext des Bildes. Ein Jahr zuvor, 1954, hatte die französische Kolonialmacht in Dien Bien Phu in Vietnam eine vernichtende Niederlage erlitten und mußte sich aus Südostasien zurückziehen. In Algerien hatte der Unabhängigkeitskrieg begonnen. Der Regierung in Paris schwebte vor, das restliche Kolonialreich in ein französisches Commonwealth umzuwandeln. Dazu wurden die kulturelle und zivilisatorische Mission Frankreichs, sein Republikanismus und der Universalismus der Französischen Revolution als Angebot offeriert. Es hat, wie man heute weiß, nicht ausgereicht, um die unterschiedlichen Identitäten abzudrängen und die Herkünfte zu domestizieren. Heute ist Frankreich das am meisten vom islamistischen Terror betroffene europäische Land.

Auch die moderne Einwanderungsgeschichte Großbritanniens trägt die Zeichen von Verblendung, Selbstüberschätzung und Realitätsverlust. Ihr Beginn datiert auf den 22. Juni 1948, als knapp 500 karibische Einwanderer mit dem Schiff „Empire Windrush“ im Mutterland eintrafen. Ursprünglich trug die „Empire Windrush“ den Namen „Monte Rosa“, unter dem sie 1930 von der Hamburg-Südamerikanischen-Dampfschiffahrts-Gesellschaft in Dienst gestellt worden war. 1945 ging sie als Kriegsbeute in britischen Besitz über. Drei Jahre später begann mit ihr eine Entwicklung, die den Charakter Großbritanniens grundlegend verändern sollte (und in Gerhard Altmanns Buch „Abschied vom Empire“ detailliert beschrieben wird).

Im selben Jahr hatte die Labour-Regierung unter Clement Attlee den „British Nationality Act“ verabschiedet, der den Bewohnern Großbritanniens, des Empire und des Commonwealth das Gewohnheitsrecht bestätigte, gleichberechtigte Untertanen der britischen Krone zu sein. Ergänzend dazu wurde eine Staatsbürgerschaft des Vereinigten Königreiches und der abhängigen Kolonien eingeführt. Alle Bewohner des in Auflösung begriffenen britischen Weltreiches besaßen damit das faktische Recht, nach Großbritannien einzureisen und sich dort niederzulassen.

Einwanderung aus den Kolonien und Dominions hatte es immer gegeben. Vom Unterschied zwischen weißer und farbiger Migration ganz abgesehen, blieben es Einzelfälle und die Auswirkungen der transnationalen Staatsbürgerschaft im Alltag abstrakt. Im Zeitalter zunehmender Massenmobilität und transkontinentaler Informationsflüsse jedoch stieß sie das Tor zur Masseneinwanderung auf. Verstärkt wurde sie durch die Spannungen und Erschütterungen, welche die Entkolonisierung vor Ort auslöste.

Die imperiale Illusion ließ die Bedenken in den Hintergrund treten. Eine weitere Denkblockade bildeten die liberalen Überzeugungen. Nicht zuletzt für sie war Großbritannien gegen Deutschland in den Krieg gezogen. Sie verboten es der britischen Führung, aus Rassen-, Religions- und kulturellen Unterschieden eine Ungleichbehandlung im Staatsbürgerschafts- und Reiserecht abzuleiten. Man sorgte sich in London, daß dies zu einer Spaltung des Commonwealth und zu Gegenmaßnahmen der betroffenen Länder führen könnte, und hoffte, die liberalen Überzeugungen und die politischen und wirtschaftlichen Strukturen Großbritanniens auf die unabhängig gewordenen Länder übertragen zu können.

Diese Annahme und die Politik der offenen Tür entsprachen allerdings einem „Elitenpaternalismus“, der von den führenden Labour-Linken bis zu den Tory-Rechten, keineswegs aber an der Parteibasis und erst recht nicht in der Bevölkerung geteilt wurde, die sich belastet und belästigt fühlte. Ein Weltkriegssoldat bat im Juli 1961 die Königin um Hilfe und stellte angesichts der Situation sogar die Sinnhaftigkeit seines Kriegseinsatzes in Frage: „Als ehemaliges Mitglied Ihrer Streitkräfte, das die deutschen Horden in Europa abwehrte und seine ganze Kraft dafür einsetzte, unser wunderschönes Land für uns alle lebenswert zu machen, kann ich es nicht verstehen, daß die Regierung so gleichgültig gegenüber ihrem eigenen Volk ist, daß sie diesen (...) Farbigen erlaubt, unkontrolliert und ungeschützt in dieses Land zu kommen.“ Heute würde er dafür von Identitätspolitikern und Antirassisten im Staatsdienst geteert und gefedert werden. Ob in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und anderswo im Westen.

Nebenbei: Darf man es den Osteuropäern, die Fremdherrschaft, Nationalitätenkonflikt und Bevölkerungsverschiebungen hinter sich haben, verdenken, daß sie sich aus dem Westen keine antiweiße Identitätspolitik importieren und Herren im eigenen Haus bleiben wollen?






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kultur-redakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Fehlentwicklungen deutscher Außenpolitik („Das Brot der frühen Jahre“, JF 20/21).

Foto: Einwanderer aus der Karibik erreichen im Juni 1948 mit der „Empire Windrush“ Großbritannien:  Die imperiale Illusion ließ alle Bedenken in den Hintergrund treten