© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Opfer von Stalins blutigem Völkerschach
Vor achtzig Jahren wurde mit einem Erlaß des Obersten Sowjets die massenhafte Deportation der Rußlanddeutschen nach Sibirien und Kasachstan eingeleitet
Paul Leonhard

Es wurde geschlachtet, gebacken, gekocht und gepackt: Proviant, Bekleidung, Bettsachen, Geschirr. Die Mutter packte die Singer-Nähmaschine ein. Der Vater verstaute einige Bücher in die Kiste.“ So schreibt Olga Gehrke-Brauer über die Deportation ihrer Eltern im September 1941: „Schließlich wurde das Haus abgeschlossen und der Schlüssel beim Vorsitzenden des Dorfrates abgegeben – niemand ahnte, daß der Abschied für immer war. Die Erwachsenen glaubten fest daran, daß sie nach dem Krieg in ihr Haus zurückkehren.“

In Moskau tobt derweil „Väterchen“ Stalin gegen die angeblichen Vaterlandsverräter. Der schnelle Vormarsch der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten konnte aus seiner Sicht nur einen Grund haben: Verrat. Die Schuldigen sind mit den Rußlanddeutschen schnell ausgemacht. „Fortjagen muß man sie!“, notiert Stalin handschriftlich neben einen Bericht über die angebliche Zusammenarbeit der deutschen Bevölkerung mit dem Gegner.

Sowjetische Vorwürfe, Deutsche seien Diversanten und Spione

Als erstes trifft es die etwa 53.000 auf der Halbinsel Krim siedelnden Deutschen. Sie werden ab Juli 1941 in den Nordkaukasus zwangsumgesiedelt oder wie es in der zynischen Sprache der Kommunisten heißt: „Wir bringen euch ins Hinterland, damit ihr nicht unter den Kriegshandlungen zu leiden habt.“ Am 26. August erfolgt auf Anordnungen der Militärräte der Leningrader Front und der Südfront die „unbedingte Evakuierung“ der etwa 96.000 Personen umfassenden deutschen und finnischen Bevölkerung aus Leningrad und Umgebung sowie aus dem Gebiet Dnepropetrowsk. Zwei Tage später folgt der Erlaß des Obersten Sowjets über die Auflösung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Ebenfalls per Erlaß wird die Deportation der Rußlanddeutschen aus dem gesamten europäischen Teil verfügt. Kurz darauf werden die in der Ukraine lebenden Deutschen der kollektiven Zusammenarbeit mit dem Feind bezichtigt.

In einem vom Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail Kalinin, unterzeichneten Schreiben heißt es: „Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen.“ Und daß keiner der ansässigen rund 374.000 Deutschen den Behörden „über die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen“ Meldung erstattet habe, beweise, daß die „deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht“ verbirgt.

Die Enteignung und gewaltsame Zwangsumsiedlung der Deutschen in die laut staatlicher Propaganda „an Ackerland reichen“ Gebiete Novosibirsk und Omsk, der Region Altai, Kasachstans und weitere benachbarte Gegenden“ kleidet die Sowjetmacht in ihre Vorsorge, ein „ernsthaftes Blutvergießen zu verhindern“. Den Umzusiedelnden werde Land zugeteilt und „staatliche Unterstützung gewährt“.

Diese besteht im wochenlangen Transport in Viehwaggons nach Sibirien oder Zentralasien. Hier müssen die Überlebenden als Arbeitssklaven in der Rüstungsindustrie oder auf Kolchosen arbeiten. Etwa eine halbe Million wird einfach in der baumlosen Steppe Kasachstans sich selbst überlassen, wo sie die ersten Jahre in selbst gegrabenen Erdhütten hausen, viele ständig vom Hungertod bedroht oder diesem oft erlegen. Deportiert werden bis Juni 1942 nach KGB-Angaben 1.209.430 Menschen, rund 82 Prozent der bei einer Volkszählung 1939 registrierten Deutschen. Mehrere hunderttausend – Schätzungen gehen bis 700.000 – kommen um, die eigenständige Kultur der Deutschen in Rußland, wie beabsichtigt, zerstört.

Es sind nicht die ersten Deportationen in der Geschichte der Rußlanddeutschen. Bereits während des Ersten Weltkrieges waren Deutsche Pogromen, Enteignungen und Vertreibungen ausgesetzt. Die russische Armee deportierte 800.000 Deutsche und Juden aus den frontnahen Westgebieten. Während der Enteignungskampagne gegen die Kulaken werden mehrere tausende Deutsche aus der Ukraine nach Archangelsk und Zentralkasachstan verbannt, 1935 und 1936 werden 15.000 polnische und deutsche Familien aus Wolhynien nach Kasachstan verbracht, 1936 weitere aus einem 7,5 Kilometer breiten Grenzstreifen und schließlich 1939 Deutsche aus grenznahen Landkreisen der West- und Südukraine. Im Juni 1941 werden alle Deutschen aus der Stadt und dem Gebiet der strategisch wichtigen Hafenstadt Murmansk „evakuiert“. Die erst in den Kaukasus gebrachten Deutschen werden später zusammen mit den dort siedelnden etwa 140.000 Deutschen nach Zentralasien vertrieben.

Noch tragischer ist das Schicksal der Deutschen in der Ukraine, von denen etwa 350.000 zwangsweise „ins Reich“ umgesiedelt und von denen mehr als 210.000 nach der Niederlage Deutschlands trotz 1944 erhaltener deutscher Staatsangehörigkeit an die Sowjets „repatriiert“ werden.

Das Kriegsende 1945 erlöst die Deutschen in Rußland nicht von ihrem Los. Am 26. November 1948 verkündet der Oberste Sowjet, daß ihre Verbannung „auf ewig“ gilt. Das unerlaubte Entfernen aus den Sondersiedlungen wurde unter Strafe von bis zu 25 Jahren Zwangsarbeit verboten. Wer in der Sowjetunion deutsch spricht, bleibt als „Faschist“ stigmatisiert. Erst ab 1956 dürfen die noch 820.000 Deutschen die Orte ihrer Zwangsansiedlung verlassen, eine Rückkehr in ihre früheren Siedlungsgebiete, besonders an die Wolga, ist ihnen aber verwehrt. Dabei bleibt es auch nach ihrer Rehabilitierung im August 1964 durch ein (damals nicht veröffentlichtes) Dekret des Obersten Sowjets. Die Deutschen in der Sowjetunion sind bis zum Zusammenbruch des Kommunismus Bürger zweiter Klasse, denen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft viele Bildungswege versperrt bleiben. Seit Beginn der 1980er Jahre versuchen daher viele, nach Deutschland auszureisen. Drei Millionen sollen seitdem in Deutschland einen Neuanfang gewagt haben, also weit mehr als nach sowjetischen Statistiken jemals im Sowjetreich gelebt haben.

Massenhafte Deportationen verschiedener Völker unter Stalin

Die Massendeportation ganzer Völker durch die Sowjetregierung gilt bis heute nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Lediglich die Zwangsumsiedlung der Tschetschenen und Inguschen 1944 wurde vom Europäischen Parlament im Februar als Völkermord anerkannt. Kein Wort über das Schicksal der Rußlanddeutschen.

Deportationen von nationalen Minderheiten gehören zum Alltag kommunistischer Herrschaft. So werden im Mai 1937 36.000 Polen nach Kasachstan umgesiedelt, im Herbst des Folgejahres 172.000 Koreaner aus ihrer Heimat nördlich von Wladiwostok nach Usbekistan und Kasachstan. Zwei Jahre später werden weitere 110.000 Polen nach Sibirien gebracht. Er folgt im Juni 1941 die Zwangsumsiedlung von 25.500 Balten, im November 1943 von 69.000 Karschaiern, zwischen Januar und Juli 1944 von 80.000 Kalmücken, 310.000 Tschetschenen, 81.000 Inguschen, 37.000 Balkaren, 200.000 Krimtataren, 36.000 Bulgaren, Armeniern und Griechen, 86.000 Mescheten-Türken, Kurden und Chemschilen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs werden bis 1950 weitere 152.000 Balten, 15.000 Armenier und 95.000 Moldauer deportiert. Deportations- und Ansiedlungsgebiete sind Sibirien, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und die Altai-Region.

Foto: Rußlanddeutsche werden 1941 mit ihrem Hab und Gut in der kasachischen Steppe ausgesetzt: Ständig vom Hungertod bedroht