© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Ämterpatronage und Parteibuchwirtschaft
Das Bundesverfassungsgericht als Schrittmacher auf dem Weg in die bunte Republik
Oliver Busch

Die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in der seit 2005 währenden, 2009 für nur für vier Jahre von einer CDU/FDP-Regierung unterbrochenen „Ära der Großen Koalition“ unter die rechts- und zeithistorische Lupe zu nehmen ist eine höchst reizvolle Aufgabe, deren Bewältigung ziemlich sicher eine politisch brisante Analyse zutage fördern kann. Kann, aber nicht muß, wie die sich diesem Thema widmende, fast sechzig Seiten umfassende Abhandlung des Göttinger Staatsrechtslehrers Florian Meinel beweist (Der Staat 1/2021). Denn hier kreißte der Berg und gebar eine Maus.  

Meinel, Jahrgang 1981, ist ein braver Ziehsohn jener  „Generation Establishment“ (Oliver Lepsius) seines Faches, die durch eine glückliche Fügung der Geschichte, die Wiedervereinigung, wesentlich schneller als früher Geborene auf staatstragenden Lehrstühlen Platz nehmen durfte. Wenig erstaunlich daher, daß diese Alterskohorten gute Karrieregründe haben, die Berliner Republik für „das beste Deutschland“ zu halten, „das es je gab“. Und dem sie ihre Dankbarkeit als Apologeten des Status quo erweisen wollen. Für sie verbietet sich darum jede grundlegende, faule Wurzeln der Verhältnisse aufgrabende Kritik. Meinels gleichwohl als „kritische Rekonstruktion“ firmierende Durchleuchtung der BVerfG-Rechtsprechung bleibt folglich nur das nicht verborgen, was allen aufgefallen ist: „Das Gericht hat sich zum Protagonisten einer verfassungspolitischen Agenda entwickelt, in deren Zentrum die Neutralisierung der parlamentarischen Mehrheitsherrschaft steht.“

Urteile standen vor 1990 meist im Gegensatz zur Regierungsmehrheit

Prägnanter formuliert: Karlsruher Richter haben nur noch die Funktion von Notaren, die auf eine „Ent-Demokratisierung der Demokratie“ (Philip Manow) hinauslaufende „schleichende Systemveränderung“ beglaubigen. Im „supermajoritären Regierungsmodus der Großen Koalition“, die sich ihrer absoluten Mehrheit stets gewiß war, komme, wie Meinel korrekt feststellt, das Parlament als Träger der Regierung „im Grunde gar nicht mehr vor“. Statt dessen habe sich die Exekutive von den lästigen Fesseln der Legislative sukzessive „befreit“. Wenn seit achtzehn Monaten der Kurs der Pandemie-Politik im Küchenkabinett des Kanzleramts festgelegt wird, dann ist das nur die Konsequenz eines Verfassungsumbaus, der weniger, wie Meinel meint, an den „limitierten Parlamentarismus“ der frühen Bonner als an die Endzeit der Weimarer Republik erinnert, als die vom Reichspräsidenten Hindenburg ermächtigten Reichskanzler per Notverordnung regierten. 

Widerstand von der „dritten Gewalt“ mußte die Merkel-Regierung nie fürchten. Das sei für ihre Vorgänger bis 1990 noch anders gewesen, als viele BVerfG-Urteile im Gegensatz zur Regierungsmehrheit standen. Die sozialliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik segneten die Verfassungshüter zwar seit 1969 ab, dafür bezogen sie aber konservative Gegenpositionen beim Schwangerschaftsabbruch oder der Deutschlandpolitik. Vergleichbare Renitenz, die von wahrer Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz künden würde, ist in Karlsruher Urteilen seit 2005 kaum in Spurenelementen enthalten. 

Warum nicht? Warum hat das Bundesverfassungsgericht sich selbst zum Büttel der Bundesregierung erniedrigt? Diese zentrale Frage stellt die sich in einer bloßen Phänomenologie der „Transformation der Verfassung“ erschöpfende „Rekonstruktion“ Meinels nicht. Ebenso im dunkeln bleibt in dieser peinlich ahistorischen Rechtsgeschichte ohne Namen, welche politischen Inhalte, welches Staats- und Gesellschaftsmodell sich das Gericht inzwischen zu eigen gemacht hat. Es weist alles auf die fleißige richterliche Rezeption linksgrüner Ideologie hin. Wie etwa das dem Multikulturalismus huldigende NPD-Nichtverbotsurteil von 2017, das den „ethnischen Volksbegriff“ bildungsfern als „nationalsozialistisch“ denunziert. Oder das jüngste „Klima-Urteil“, dessen infantile Begründung ebenso gut wie vom Senatsvorsitzenden Stephan Harbarth von einer Klägerin, der grünen „Klimaaktivistin“ Luisa Neubauer, hätte stammen können.

Den harten Fragen, denen die Schneeflocke Meinel ausweicht, widmet sich um so intensiver der dem Establishment nicht mehr verpflichtete Jurist Werner Mäder in seinem Essay „‘Karlsruhe’ oder Täter in roter Robe“ (Etappe, 25-2021). Der systemfromme Konformismus von deren Spruchpraxis ist ihm, anders als dem formalistischen Verschleierungskünstler Meinel, nicht Resultat autonomer und anonymer Prozesse, die wie von Zauberhand die Exekutive stärken, sondern Folge rigider Parteipolitisierung der Personalauswahl für den Karlsruher „Scheinriesen“. Diese begann aber nicht erst unter Merkels Ägide. „Ämterpatronage und Parteibuchwirtschaft“ schossen bereits zu Kanzler Kohls Zeiten ins Kraut, als dessen CDU-Freunde, die BVerfG-Präsidenten Roman Herzog und Hans-Jürgen Papier, mit dem juristischen Flankenschutz für einen „beispiellosen Rechtsbruch“, die Festschreibung der sowjetzonalen Enteignungen im Einigungsvertrag, schamlos die „Hörigkeit“ der dritten Gewalt demonstrierten. „Das BVerfG ist schon unter Kohl in eine Schieflage geraten, als befangene Gerichtspräsidenten, ‘Freunde’ Kohls, in existentiellen Fragen des deutschen Staatswesens und seiner Bürger, im Zuge der Wiedervereinigung, zu deren Lasten rechtswidrige Entscheidungen getroffen und rechtswidrige Eigentumsentziehungen legitimiert haben, so offensichtlich, daß manche sogar von einem regelrechten ‘Raubzug Ost’ gesprochen haben.“

Zur Beute ideologischer Parteipolitik verkommen

Mit den Merkel-Kabinetten habe diese Praxis ihre bruchlose Fortsetzung gefunden. Papiers Nachfolger, Andreas Voßkuhle, SPD-Mann und Internationalist („Europäer“), machte das Gericht, einst „Bollwerk gegen die sukzessive Auflösung bundesrepublikanischer Staatlichkeit“, zu deren Beschleuniger. Es sei in seiner Amtszeit auch endgültig zur „Beute ideologisch ambitionierter Parteipolitik“ verkommen, wie die von CDU und SPD dominierten „Zuwahlen“ der für Massenmigration agitierenden grünen „Gender-Professorin“ Susanne Baer sowie die des Ex-Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU) zeigen. Dessen wichtigster pseudojuristischer Beitrag zur Herrschaftszementierung war 2015 die Abweisung einer ÖDP-Klage gegen die über Parteistiftungen eingefädelte „verdeckte Staatsfinanzierung“ der Altparteien. 

Nicht die von Meinel diagnostizierte Mittäterschaft beim Demokratie-Abbau zugunsten einer abstrakten, vermeintlich alternativlos „Sachzwängen“ gehorchenden Exekutive erklärt die opportunistische Stringenz der BVerfG-Rechtsprechung, sondern die Bereitschaft des politisch dreimal gesiebten Richterpersonals, den von dessen Gönnern abgesteckten Weg in eine andere Republik mitzugehen.

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Foto: Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, Juni 2020: Kein Bollwerk gegen die sukzessive Auflösung bundesrepublikanischer Staatlichkeit