© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Ohne Kompaß gegen die Klippen
Der Journalist Philip Plickert präsentiert in einem Sammelband kritische Stimmen über Angela Merkels 16jährige Kanzlerschaft
Jörg Kürschner

Was bleibt von Angela Merkel nach 16 Jahren Kanzleramt? Die Meinungen fallen höchst kontrovers aus – lange vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015, als sie mit ihrer Politik der Grenzöffnung das Land gespalten hat, ist auch das Urteil über sie gespalten. Der FAZ-Korrespondent Philip Plickert hat das erstmals 2017 unter dem Titel „Merkel.Eine kritische Bilanz“ erschienene Buch komplett überarbeitet und als „Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft“ mit innenpolitischem Schwerpunkt neu herausgegeben.

Darin untersuchen 24 namhafte Autoren Merkels Politik, fragen, was von der ersten Frau im Kanzleramt bleibt. Um es gleich vorwegzunehmen, ihr Urteil fällt überwiegend negativ, oft auch vernichtend aus. Damit setzt Herausgeber Plickert einen gewollten Kontrapunkt zu dem unkritischen Gejubel der Mainstream-Journalisten, deren linksliberale Vorgaben und Meinungen Merkel meist ebenso geschmeidig wie unkritisch politisch umgesetzt hat. Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt bringt es auf den Punkt. „Was immer an CDU-Positionen einer grün-linken Journalistenmehrheit mißfällt, sollte bei günstiger Gelegenheit abgeräumt werden.“ 

Die programmatische Entkernung hat in der CDU niemand aufhalten können. Merkel hatte ihre innerparteilichen Gegenspieler wie etwa Roland Koch, den früheren Ministerpräsidenten Hessens, entweder kaltgestellt oder isoliert, wie etwa Jörg Schönbohm, den einstigen Innenminister Brandenburgs. So hat die langjährige CDU-Chefin die AfD groß gezogen, wie der Historiker Dominik Geppert zutreffend analysiert. Die ungeklärte Frage, wie es die CDU mit den Konservativen hält, hat die langjährige CDU-Chefin ihrem Nach-Nachfolger Armin Laschet überlassen.

„Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, und mal bin ich christlich-sozial. Und das macht die CDU aus“, entlarvte sich Merkel 2009 gegenüber ihrer unterwürfigen Hofjournalistin Anne Will. Diese Beliebigkeit gilt nicht in der Familienpolitik. Dort steht jenseits dieser Zuschreibungen die berufstätige Frau im Vordergrund. Punkt. Aus. Ende. Die JF-Autorin Birgit Kelle beklagt die Sozialdemokratisierung der CDU-Familienpolitik. Von „vergeudeten menschlichen Möglichkeiten“ sprach Merkel auf einem Frauengipfel, da es zu wenig Managerinnen in Führungspositionen gebe. Und was ist mit erziehenden Müttern, Vollzeitmüttern, ehrenamtlich engagierten Frauen, kritisiert Kelle zu Recht. Rätselhaft bleibt Merkels zeitweiser Spitzname „Mutti“, da ihr eigentlich jede Mütterlichkeit abgeht. Sie wollte als Kanzlerin, nicht aber als Frau wahrgenommen werden.

Ein denunziatorisches und zensorisches Klima breitgemacht

So sieht es auch der Medienwissenschaftler Norbert Bolz, der ihr einen „asexuellen Auftritt“ bescheinigt. „Sie war fleißig und diszipliniert, kinderlos, geschieden und, seien wir ehrlich, manchmal häßlich“, lautet das wenig schmeichelhafte Fazit des vielfachen Buchautors. Mit dem Öffnen der Grenzen 2015, einer „emotionalen Großentscheidung“, habe sich Merkel den Vorwurf des Rechtsbruchs eingehandelt, der aber keine nennenswerte öffentliche Diskussion auslöste. Bolz’ Erklärung: „Sie repräsentierte die humanitaristischen Positionen der meisten Journalisten.“ Mit der Folge, daß Kritik als rechtspopulistisch marginalisiert wurde.

Damit hat sich nach Ansicht des Rechtsanwalts Joachim Steinhöfel ein „denunziatorisches und zensorisches Klima breitgemacht“. Befördert werde dieses durch die Kanzlerin selbst, die mit den Begriffen „Haß und Hetze“ die Meinungsfreiheit einschränke und Äußerungen diskreditiere. Da zur DDR-Wirklichkeit der Gummiparagraph „Staatsfeindliche Hetze“ und folglich die Verhaftung vieler Oppositioneller gehörte, müßte Merkel eigentlich „höchst sensibilisiert sein gegen Einschränkungen der freien Rede“, wundert sich der Jurist. Im Gegenteil. Der Bestsellerautor Thilo Sarrazin, der in dem Bilanz-Buch ebenfalls zu Wort kommt, wurde selbst vom Bannstrahl erfaßt. Dessen 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ kanzelte die Kanzlerin als „nicht hilfreich“ ab. Damit wollte sie jede konstruktive Diskussion über eine gesteuerte Einwanderung unterbinden. Ohne Erfolg, aber mit erheblicher Außenwirkung. Der britische Zeithistoriker Anthony Glees ist sich sicher, Merkels „Versagen in der Immigrationspolitik (...) hat die Briten aus der EU herausgeschoben“.

Einen Blick in Merkels Vergangenheit, also ihre Jahre in der DDR, versucht der Historiker Ralf Georg Reuth. Was schwierig ist, da über das Leben der 1954 geborenen Angela Kasner vor 1989 wenig bekannt ist. Pfarrerstochter aus der Uckermark, Physikstudium, Promotion, Arbeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Heirat und Scheidung von Ulrich Merkel, 1998 Heirat mit dem Quantenchemiker Joachim Sauer. Und politisch? Nach dem Mauerfall findet sie zum neugegründeten linksorientierten „Demokratischen Aufbruch“, der später in der CDU aufging. Reuth zitiert frühere Akademie-Kollegen, denen zufolge sich „die rote Frau Merkel“ am Institut als „FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda“ noch nach dem Mauerfall für einen besseren DDR-Sozialismus eingesetzt habe. Was sie bestreitet, weil es nicht zu einer CDU-Karriere gepaßt habe, meint Reuth. Merkel weiß in der Zeit des Umbruchs andere Akzente zu setzen. Als Schülerin habe sie angeblich vor lauter Begeisterung für die Bundesrepublik die wichtigsten Bundestagsdebatten im Transistorradio „heimlich in der Schule auf dem Klo“ verfolgt.

Philip Plickert (Hrsg.): Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft. Finanzbuch Verlag, München 2021, gebunden, 316 Seiten, 18 Euro

Foto:  „Merkel-Raute“ als Symbol ihrer Machtpolitik: Ohne innerparteiliche Opposition und hart am Wind der Medien