© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Die Rußlandpolitik ist konzeptionslos
Der Journalist Hubert Seipel beklagt das Verhältnis Deutschlands und der EU zu Moskau, das einzig durch Moralisieren geprägt sei
Erich Weede

Hubert Seipel war zuletzt Journalist bei der ARD. Er hat seit einigen Jahren außerordentlich engen Kontakt zu Putin. Diese Kontaktdichte wäre ohne gegenseitiges Verständnis und Sympathie nicht denkbar. Das soll nicht als Vorwurf verstanden wissen. Niemand kann Gründe dafür vorbringen, warum die Versöhnung von Russen und Deutschen weniger wünschenswert als etwa die zwischen Franzosen und Deutschen wäre. Seipel kann auch zugestimmt werden, daß die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes nicht hilfreich ist, daß die Neigung zum Moralisieren und der Anspruch auf moralische Vorbildlichkeit – etwa weil wir im Gegensatz zu den Russen eine funktionierende Demokratie gewohnt sind – Versöhnung unmöglich macht und angespannte Beziehungen garantiert. Trotz der Sympathie des Rezensenten für das Anliegen Seipels ist das Buch auch enttäuschend. Denn der Untertitel „Warum Europa Rußland braucht“ oder die Überschrift auf der Rückseite „Ohne Rußland hat Europa keine Zukunft“ stellt eine begründungsbedürftige These auf. Die These kann man interessant finden, allerdings ohne einen Bezug auf eine geopolitische Theorie kann auch Seipel keine Begründung geben. 

Was man reichlich in dem Buch findet, sind wiederholte Hinweise darauf, daß die deutsche Politik seit der Wiedervereinigung konzeptionslos und immer nur ad hoc handelt. Beständig ist nur das Moralisieren auf deutscher Seite und die Unfähigkeit zu verstehen, daß und warum Putin und die Russen weder in der Osterweiterung der Nato bis kurz vor Sankt Petersburg – genauer: bis Narwa in Estland – noch in der „Demokratisierung“ und Europäisierung der Ukraine eine Grundlage für eine gute gemeinsame Zukunft sehen. Die selbst vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron beklagte Unfähigkeit der Europäer zum geostrategischen Denken wird im Buch glänzend belegt. 

Moskau wird durch Boykotte in die Arme Pekings getrieben

Leider wird auch nicht erkennbar, wie Putin geostrategisch denkt. Eine im Buch nicht explizit hervorgehobene Konstante der deutschen Politik ist das Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit, wofür Nord Stream 2 das symbolträchtigste Beispiel ist. Wer „realistisch“ im Sinne der US-amerikanischen Zeitschrift The National Interest denkt, könnte argumentieren, daß der Westen ein Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Rußland haben muß, um Moskau nicht in die Arme Pekings zu treiben. Vielleicht mutet Seipel dem deutschen Leser solche Gedanken nicht zu, weil Interessen keine moralische Kategorie, sondern nur Realität sind. Er weiß und beklagt schließlich, daß wir dafür blind sind. Er schreibt allerdings explizit, daß die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock von ihrer früheren friedenspolitischen Erkenntnis, daß auch Russen Sicherheitsinteressen haben, abgerückt sind und jetzt Nord Stream 2 am liebsten noch auf den letzten Metern verhindern möchten. Moralisch vorbildlich werden wir nach dieser Konzeption ohne Atomstrom, ohne deutsche Kohle und ohne russisches Gas im Dunkeln und im Kalten sitzen. 

Das Buch ist eine interessante und kenntnisreiche zeitgeschichtliche Reportage, nicht nur zu Merkel und Putin, auch zu Balten, Polen und Ukrainern, zu den Verwicklungen von Biden – Vater und Sohn – mit der ukrainischen Wirtschaft und Staatsanwaltschaft, zu Trump und zur Polarisierung in Amerika,  auch zu Syrien, Libyen und dem Irak und der Einmischung der Großmächte dort. 

Hubert Seipel: Putins Macht. Warum Europa Rußland braucht. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2021, gebunden, 352 Seiten, 24 Euro