© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 34/21 / 20. August 2021

Umwelt
Wohlstand und Elend
Volker Kempf

Reiche Industrieländer haben auch eine „Gegengesellschaft“, ein Begriff, den Walter Hollstein vor 40 Jahren mit seinem gleichnamigen Buch prägte. Der Soziologe und Sohn des gleichnamigen Fußballtrainers präsentierte sich als Versteher der Hippies und der Frauenbewegung. Was eint diese? Gegen das Establishment zu sein. Von Hollstein wird Herbert Marcuse mit den Worten bemüht: „Wir bekämpfen eine Gesellschaft, der es in der Tat gelungen ist, Armut und Elend in einem Maße zu beseitigen, wie es früheren Stadien des Kapitalismus nicht gelungen ist.“ Eine solche Gesellschaft braucht eine Vision. Im Wohlstand rangieren materielle Bedürfnisse weit hinten, Lebensqualitäten weit vorne. Der Gammlerlook brachte antimaterialistischen Protest zum Ausdruck. Heute gehört eine zerrissene Jeans zur Mode. Ethische Postulate zur Umwelt haben Konjunktur, der Vegetarismus wird gepredigt. Bürgerinitiativen wurden von der Alternativbewegung als Chance begriffen.

Walter Hollsteins „Gegengesellschaft“ hat sich, aber anders als gedacht, längst etabliert.

Sich mit Solarzellen auf dem Dach ein Stück weit energetisch selbst zu versorgen, soll Pflicht werden. Aldi ist der größte Bio-Händler. Was wurde aber aus der von Hollstein ausgemachten Schwäche, daß die hehren Ziele Mehrarbeit und Kosten verursachen? Damit erreiche man keine Unterschichten. Und Verzicht auf Reisen und elektrische Geräte kennzeichnen die vergangenen 40 Jahre nicht. Einige fürchten Deindustrialisierung und die klimaneutrale Gegengesellschaft, die als „große Transformation“ opportun scheint. Die Grünen geben Deutschland längst den Takt vor. Heute schickt sich die einstige Umweltpartei an, über viel utopische Energie zu verfügen und die Zukunft zu gestalten. Annalena Baerbock verkörpert die alten Mängel, schöne Postulate an die Stelle von realitätsnahen Konzepten zu stellen. Hollstein hatte bei aller Sympathie früh davor gewarnt, es sich mit der Wirklichkeit nicht zu einfach zu machen. Sonst fällt das irgendwann auf. Das hat vier Jahrzehnte gedauert.

 www.walter-hollstein.ch