© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Konsequenzen bleiben aus
Nach dem Afghanistan-Desaster: Wie so häufig übernimmt niemand die Verantwortung für das Chaos
Michael Paulwitz

Es war einst ein stolzer, inhaltsschwerer Satz: „Ich übernehme die Verantwortung.“ Seine Bedeutung war jedem geläufig. Ein Minister oder Behördenchef zieht die Konsequenzen aus einer Fehlleistung oder einem schweren Versagen, das in seinem Verantwortungsbereich geschehen ist, und tritt von seinem Posten zurück. Dabei spielt es keine Rolle, ob er persönlich die Verfehlung begangen hat oder einer seiner Untergebenen. Denn der Minister, der Vorgesetzte, trägt die Verantwortung für alles und muß in letzter Konsequenz dafür geradestehen.

Darin besteht ja gerade der Nimbus, der seine herausgehobene Stellung umgibt. Daraus leitet sich auch die Würde und der Respekt ab, der seinem Amt und ihm persönlich als dessen Repräsentanten gebührt und der sich auch in gewissen Vorrechten, Vergünstigungen und einer angemessenen Bezahlung auf Kosten der Allgemeinheit niederschlägt.

Der Amtsinhaber, der seinen Rücktritt zum ultimativen Akt der Verantwortung erklärt und auf seine herausgehobene Position verzichtet, achtet und bewahrt damit auch die Würde des Amtes an sich, die unabhängig von der Person des jeweiligen Amtsinhabers besteht. Und er erweist denjenigen den gebührenden Respekt, die ihm dieses Amt auf Zeit übertragen haben: den Bürgern, dem Souverän des demokratisch verfaßten Gemeinwesens.

In den sechzehn dumpfen Merkel-Jahren ist auch dieses Bekenntnis zur leeren Hülle und inhaltslosen Phrase verkommen. „Ich übernehme die Verantwortung“ heißt heute: Ich spreche diesen Satz aus, und das war es dann auch; daraus folgt nichts, keine Konsequenz, weder persönlich noch in Inhalten oder Handlungen. Die Kanzlerin lebt diesen Herrschaftsstil der unverantwortlichen Verantwortungslosigkeit selbst vor. Wie oft hat sie schon „die Verantwortung übernommen“ – für Chaos in der Migrationspolitik, für Wahlniederlagen und zuletzt für die fatale Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan durch ihr Kabinett – und ist doch immer noch im Amt. 

Die letzten Monate der Großen Koalition bieten Gründe und Anlässe für Ministerrücktritte in Serie. Rückblickend erscheint geradezu als Petitesse, wofür in länger zurückliegenden Zeiten Minister oder sogar Bundespräsidenten den Hut nehmen mußten, fragwürdige Urlaubsreisen etwa, ein privater Hauskredit oder ein Verstoß gegen Schweigepflichten in laufenden Verfahren. 

Die Fehlleistungen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn rund um die Corona-Krise reichen gut und gern für ein halbes Dutzend Rücktritte, vom Impf-Debakel und merkwürdigen Immobiliengeschäften über fragwürdige Beschaffungsmaßnahmen und Erstattungsregelungen, die Milliardenschäden zu Lasten der Steuerzahler verursacht haben, bis hin zur Verstrickung in freihändig vergebene Maskendeals mit Begünstigungsverdacht.

Spahn ist ungerührt weiter im Amt, ebenso wie Bundesinnenminister Horst Seehofer, der trotz massiver Defizite beim Katastrophenschutz in der Juli-Flutkatastrophe einfach weitermacht, obwohl etliche gravierende Mängel bereits seit einem Dreivierteljahr offen zutage lagen. Auch Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet steht als Ministerpräsident von Nord-

rhein-Westfalen in keinem guten Licht da. Die Suche nach Sündenböcken ist bereits im Gange, in Rheinland-Pfalz drängt die CDU den überforderten Landrat von Ahrweiler zum Amtsverzicht. Die für das Katastrophenschutz-Versagen auf Landesebene verantwortliche grüne Umweltministerin denkt natürlich ebenfalls nicht an Rücktritt.

Noch eklatanter ist das Sesselkleben der Hauptverantwortlichen für das Desaster, mit dem der fast zwanzigjährige Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu Ende geht. Fast jeder zweite Deutsche ist der Ansicht, daß Bundesaußenminister Heiko Maas und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer dafür zurücktreten müßten. 

Um das Versagen der beiden Minister zu erkennen, braucht es keinen Untersuchungsausschuß. Maas hat seine Naivität, Ahnungslosigkeit und groteske Verkennung der Lage laufend im Kurznachrichtendienst Twitter dokumentiert. Während sein Botschaftspersonal in Kabul verzweifelt auf grünes Licht für die Evakuierung wartete und sich schließlich auf eigene Initiative aus der Zwangslage mit Hilfe der Amerikaner zum Flughafen durchschlug, absolvierte der verantwortliche Minister eine läppische Wahlkampfveranstaltung in der Provinz. Und als ihre Soldaten immer tiefer in die Klemme gerieten und auf Befehle für den geordneten Rückzug warteten, buk die Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt Flammkuchen für wohltätige Zwecke. 

Das Manöver des Außenministers, dem Bundesnachrichtendienst die Schuld für seine Versäumnisse zuzuschieben, ist besonders niederträchtig, war es doch die Bundesregierung selbst, die den Auslandsgeheimdienst so in seiner Handlungsfähigkeit beschnitten hat, daß er kaum noch in der Lage war, brauchbare Lageberichte zu liefern. Doch unter der Regierung von Angela Merkel muß nur das Kabinett verlassen, wer die Gunst der Kanzlerin verloren hat. Das Ansehen von Amt und Institutionen wird dadurch gründlich zerstört. Staatsämter sind für jedermann ersichtlich nur noch Versorgungsposten und Pfründen, die der persönlichen Absicherung der jeweiligen Inhaber dienen. Die Verantwortung vor dem Souverän ist de facto außer Kraft gesetzt und durch die Ergebenheit gegenüber dem Apparat ersetzt, dem die jeweiligen Inhaber ihre Nominierung verdanken.

Im Bestreben, sich diese Gunst zu erhalten und sich die Chance auf einen Posten auch im nächsten Kabinett zu sichern, häufen Maas und Kramp-Karrenbauer neuen, größeren Schaden auf den bereits angerichteten: Nach ihrem Versagen beim Abzug aus Afghanistan wollen sie zum Ablauf ihrer Amtszeit als humanitäre „Retter“ wahrgenommen werden, die wenigstens den Transport einer möglichst großen Zahl afghanischer Migranten nach Deutschland ermöglicht haben. Deshalb verhandelt Maas um die internationale Kontrolle des Flughafens von Kabul, dafür – und nicht für ihre bisherigen Versäumnisse – verspricht nun auch Kramp-Karrenbauer, „den Kopf hinhalten“ zu wollen. 

Das Feudalsystem der Ära Merkel hat im Ergebnis eine beispiellose Negativauslese bei der Besetzung der Spitzenämter bewirkt. Wollte eine kommende Regierung diese Hinterlassenschaft aufräumen, müßte sie zuerst das Prinzip der Verantwortung in seinem ursprünglichen Sinn wieder zur Geltung bringen. Wenig spricht dafür, daß dies mehr als ein frommer Wunsch bleiben wird.