© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Marcus Grotian. Der engagierte Offizier erhebt schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung.
„Blut an den Händen“
Sandro Serafin

Marcus Grotian nimmt kein Blatt vor den Mund: „Blut klebt an den Händen unserer Politiker!“ – empört sich der Hauptmann der Bundeswehr bitter. Seit Jahren setzt er sich für Afghanen ein, die Deutschland während des Einsatzes am Hindukusch unterstützt haben, als Köche, Übersetzer, Sicherheitskräfte etc. 2011 war der heute 44jährige Fernmeldeoffizier aus Hildesheim selbst für sieben Monate in Kundus. Dort hatte er zwar kaum direkt mit den Ortskräften zu tun, dennoch lernte er ihre Hilfe schätzen. 

2015 gründete Grotian das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, das nach Deutschland geflohene afghanische Helfer bei Wohnungs- und Arbeitssuche oder Behördengängen hilft, und er versuchte, das Thema öffentlich zu machen. Zwar hatte sich der Hildesheimer Realschüler 1995 zusammen mit einem Kumpel auch zur Bundeswehr gemeldet, um „MG zu schießen“, doch nach einer Gehirnblutung beschloß er, anderen zu helfen und zu versuchen, „die Welt ein bißchen besser zu hinterlassen“. 

Bereits vor dem Fall Kabuls zeigte sich Grotian von der Gleichgültigkeit der Politik gegenüber dem Schicksal der Ortskräfte ernüchtert. Wer nun dieser Tage die zahlreichen Auftritte des eigentlich stoischen Niedersachsen in Fernsehen, Radio und Presse verfolgt, erlebt einen Mann zwischen tiefer Betroffenheit, Verbitterung und Wut. Da sich niemand kümmerte, richtete er auf eigene Faust von Deutschland aus „Safe Houses“ in Kabul ein, Häuser mit Mauern und Wachen, in denen mehrere hundert „Seelen“, wie Grotian sagt, Platz fanden. Geld dafür kam auch vom linksradikalen Zentrum für Politische Schönheit (JF 10/18). Dann standen die Taliban in Kabul. Die Schutzhäuser mußten aufgelöst werden, da sie zu Todesfallen zu werden drohten. Immer noch versucht er aus der Ferne, Ortskräfte zum Flughafen zu lotsen – „ich fühle mich ein bißchen wie im Einsatz“, sagt er.

Seine Ernüchterung über die Politik dürfte Verachtung gewichen sein – „perfide“ nennt er ihr Verhalten.  

Inzwischen dürfte Grotians Ernüchterung über die Politik Verachtung gewichen sein. Mit mehreren Regierungsstellen hatte er Kontakt, schrieb allein ans Kanzleramt fünf Briefe, die unbeantwortet blieben. „Wir haben gewarnt, haben Probleme aufgezeigt, die aber angeblich gar nicht existierten, sowie Lösungen, die aber keiner hören wollte.“ „Perfide“ nennt er das Verhalten der Regierung, die Ortskräfte durch die Bedingung, Visa-Verfahren nur von Afghanistan aus betreiben zu können, im Land festgehalten und so an rechtzeitiger Flucht gehindert zu haben. „Jetzt sitzen sie in einer Todesfalle,“ bilanziert er bitter, „und wir können ihnen nicht mehr helfen.“ Mehrmals am Tag breche er in Tränen aus, gibt Grotian zu. 

Sein Unverständnis erregt auch, daß man sich „noch nicht mal (um) die Deutschen und unsere Ortskräfte dort“ gekümmert habe, „und schon geht es darum, wie viele Flüchtlinge zu uns kommen sollen“. Als Staatsbürger in Uniform sei er fassungslos, daß „diese Regierung jede Verantwortung von sich weist“, resümiert Grotian und sieht sich „moralisch verletzt“. Ob er angesichts „all der Lügen“ weiter bei der Bundeswehr dienen wolle, das wisse er noch nicht. Und ob er dienstrechtliche Konsequenzen fürchte? „Ich fürchte, wir haben sehr viele Menschen in Afghanistan zurückgelassen – der Rest kommt später.“

 www.patenschaftsnetzwerk.de