© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Einer von vieren
Ausbildung: Immer weniger junge Menschen beginnen eine Lehre. Gewerkschaften machen die Corona-Pandemie verantwortlich. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, droht Deutschland ein Fachkräftemangel. Die junge freiheit sprach mit einem Handwerksmeister über seine Erfahrungen
Paul Leonhard und Martina Meckelein

Ausbildungsplätze gibt es in Deutschland wie Sand am Meer. Laut Statista, die Zahlen sind vom August, sind es genau 527.433. Doch es wurden nur 467.485 Ausbildungsverträge abgeschlossen, 60.000 freie Plätze also. Es fehlt nicht nur an Bewerbern, auch die Abbruchquote ist enorm. Mit immer neuen Maßnahmen versuchen Industrie- und Handwerkskammern bei jungen Menschen für ihre Berufe und Gewerke zu werben. Die Bundesagentur für Arbeit setzt in Zusammenarbeit mit den Ministerien auf das Internet, um Schulabgängern die Arbeit schmackhaft zu machen. Doch die Resonanz ist durchwachsen. Studien der Gewerkschaften haben die Corona-Pandemie als Verursacher der Unlust der Jugendlichen am Beruf identifiziert. Ist das so? Eine Spurensuche.

 „Das Problem haben wir doch schon seit vielen, vielen Jahren“, sagt Jürgen Grapp (59), Elektromeister aus Berlin. Grapp ist Geschäftsführer eines Elektrobetriebes im Berliner Stadtteil Lichterfelde, den sein Vater gegründet hat. Heute beschäftigt Grapp 46 Mitarbeiter und bildet acht Lehrlinge aus. „Meiner Einschätzung nach ist der größte Faktor für das Fehlen der Auszubildenden das niedrige Einkommen, speziell in den Handwerksberufen. Die haben dadurch an Attraktivität verloren.“ Tariflich festgelegt bekommt ein Elektronik-Lehrling im ersten Lehrjahr 760 Euro.

 Stand August 2021 zählte das Bundesamt für Statistik 1.328.964 Azubis in Deutschland. Die durchschnittliche Vergütung lag bei 963 Euro pro Monat. Die höchste tarifliche Ausbildungsvergütung gibt es im öffentlichen Dienst. Doch die sogenannte Vertragslösungsquote beträgt bei einer Berufsausbildung 26,9 Prozent. „Von vier Lehrlingen, die bei mir als Elektroniker oder Bürokauffrau die Ausbildung beginnen, brechen drei ihre Lehre ab“, sagt Grapp, „oder bestehen ihre Prüfung nicht.“ Dabei gehören diese Ausbildungen zu den beliebtesten Lehrberufen.

 Aktuell sind bei den Schulabgängern vermeintlich krisensichere Berufe besonders gefragt. An der Spitze der Hitliste 2021 steht nach einer Auswertung der Daten durch die Ausbildungsbörse eine Lehre als Kaufmann beziehungsweise Kauffrau für Büromanagement. Auf den weiteren Plätzen folgen: Kraftfahrzeugmechatroniker, Industriekaufmann, Fachinformatiker, Medizinischer Fachangestellter, Verkäufer, Elektroniker, Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Zahnmedizinischer Fachangestellter sowie Bankkaufmann. Interessant dabei ist, daß bei den Spitzenreitern – also Büromanagement bei Frauen und Kraftfahrzeugmechatroniker bei Männern – ein erfolgreicher Schulabschluß keine Voraussetzung für einen Lehrvertrag darstellt, auch wenn ein mittlerer Bildungsabschluß „bevorzugt“ wird. Und so manchem Meister ist das Bauchgefühl bei der Einstellung eines Lehrlings wichtiger als die Zeugnisse. Ein weiterer Vorteil: Eine Ausbildung im Handwerk könne grundsätzlich jederzeit aufgenommen werden, wenn sich Betrieb und Jugendlicher darüber einig sind, wie beispielsweise Handwerkskammerpräsident Joachim Wohlfeil versichert, der auf aktuell 300 freie Lehrstellen in mehr als 60 Berufen bei der Handwerkskammer Karlsruhe verweist. Unterstützung gibt es auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, das in diesem Jahr den „Sommer der Berufsbildung“ ausgerufen hat, um jungen Menschen Lust auf eine Ausbildung im Handwerk zu machen.

Berufsberatung ist ein Massengeschäft

 Laut der Industrie- und Handelskammer Berlin-Brandenburg stehen aktuell 300  Ausbildungsberufe zur Auswahl. Doch den Schulabgängern sind davon meistens nur zehn bekannt. Grapp sieht nicht nur deshalb den Erfolg dieser Werbeprojekte von Behörden und Kammern skeptisch, verschiedene Ausbildungsangebote bekannter und attraktiver zu machen. „Die Berufsberatung ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Ich habe das Gefühl, daß das ein Massengeschäft ist. Die gehen nicht auf die Jugendlichen ein. Statt zu fragen, wozu eignet sich der Jugendliche, schauen die, wo die Wirtschaft Bedarf hat. Genau dies ist einer der Gründe, daß die Ausbildung später abgebrochen wird. Es paßt eben nicht.“ Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln sieht diesen Bruch zwischen Angebot und Nachfrage: Die Wünsche der Jugendlichen und die Bedarfe der Unternehmen würden oft einfach nicht zusammenpassen. Doch Grapp ist auch selbstkritisch: „Meines Erachtens müssen wir erst einmal wegkommen von diesem verstaubten Image des Handwerkers. Da müssen unsere Kammern weitere Ideen entwickeln.“

 Doch warum sind Lehrberufe unattraktiv? Zieht das Sprichwort „Handwerk hat goldenen Boden“ nicht mehr? Im Grunde wurde der Lehrberuf Opfer einer Parteipropaganda. In den sechziger Jahren startete die SPD ihre Bildungsinitiative. Flankiert von den Gewerkschaften behauptete sie, Chancengerechtigkeit schaffen zu wollen. „Soziale Ungleichheiten sollten nicht mehr länger durch das Bildungssystem reproduziert werden, die Herkunft nicht mehr über die Zukunft entscheiden. Die Förderung bildungsferner Schichten sowie von Frauen wurde massiv ausgeweitet“, heißt es bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Auf die Spitze getrieben wurde der internationale Wettlauf um die höchsten Akademikerquoten in den 2000er Jahren. Die Folge: Bachelor- und Master-Studiengänge, ein „Akademisierungswahn“, wie Julian Nida-Rümelin in seinem vielbeachteten und auch -kritisierten Essay 2014 es nannte. Gemeint ist damit die Bevorzugung der akademischen Ausbildung, die den Fachkräftemangel in den Lehrberufen verstärkt. Gab es an deutschen Universitäten laut Statista 1995 noch 262.407 Studienanfänger, waren es im vergangenen Jahr 488.585. Die demographische Entwicklung der Bundesrepublik verschärft noch einmal die Situation der Lehrberufe. Laut Bundeszentrale für politische Bildung machten 1970 die unter 20jährigen in Westdeutschland noch 29,7 Prozent der Bevölkerung aus. Bis 1995 fiel ihr Anteil in Deutschland auf 21,5 Prozent, 2018 lag er bei nur noch 18,4 Prozent.

 Daß die Situation in den Lehrberufen stark von der politischen Lage abhängig ist, hat Grapp am eigenen Leib erfahren. „Wir hier im Osten, also Berlin-Brandenburg, sind da sicher noch in einer anderen Situation als die Kollegen im Westen. Bei uns ist das durch die Wende historisch bedingt. Nach den Aufbaujahren gingen viele Unternehmen in den 2000er Jahren insolvent. Plattformen wie My Hammer zeichneten dann noch das Bild des billigen Handwerkers und verstärkten es. Zwar haben wir eine Erhöhung des Stundenlohnes von 2010 bis jetzt um 70 Prozent, aber das heißt real von 11 auf 16 bis 19 Euro bei einem Facharbeiter. Da kommen Sie auf einen Monatslohn von 2.958 Euro brutto. Nun, es wird besser, aber Familiengründung, Urlaub, Auto, Wohnung ist da kaum drin. An ein Haus ist überhaupt nicht zu denken.“

Mentale Probleme: Jugendliche haben sich eingeigelt

 Abgesehen vom Lohnniveau und dem noch ausbaufähigen Image der Lehrberufe scheint es bei den Jugendlichen allerdings auch mentale Probleme zu geben, die die historisch einmalig geringen Ausbildungszahlen erklären. Die Corona-Krise habe zu dem bislang einzigartigen Rückgang der Ausbildungsverträge geführt. Lediglich 465.000 Schulabgänger haben im vergangenen Jahr einen Ausbildungsvertrag in der dualen Berufsausbildung abgeschlossen, teilte das Statistische Bundesamt mit. Das waren 47.600 weniger als 2019. Der größte prozentuale Rückgang seit 1977. Besonders deutlich seien die Neuabschlüsse im Gast- und Verkehrsgewerbe zurückgegangen, also in sehr stark von den Corona-Maßnahmen betroffenen Branchen, sagt Rotraud Kellers vom Bundesamt. Das löse bei vielen jungen Menschen Ängste aus, überhaupt keine Lehrstelle zu bekommen. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von April dieses Jahres gehen 71 Prozent der 14- bis 20jährigen davon aus, daß sich ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz verschlechtert haben. Viele sind auch nicht mehr motiviert, weil sie das Gefühl haben, ihr Leben nicht mehr selbst bestimmen zu können. Sie haben sich „wirklich eingeigelt“, sagt Jugendforscher Simon Schnetzer. Bei vielen habe das Selbstwertgefühl gelitten.

 Dies führt dazu, daß die Lehrlinge zu Beginn ihrer Ausbildung ein oder zwei Jahre älter sind als noch vor einigen Jahren. Gerade letzteres erlebt auch Grapp in seinem Betrieb. „Die beginnen ihre Lehre heute mit 18 oder 19 Jahren, begründen das mit einem Sabbatical, einer selbstgewährten Auszeit, die sie nach der Schule bräuchten.“ Eine Bertelsmann-Studie findet dafür folgende Formulierung: So hätten Tausende junger Leute ihren Start ins Berufsleben einfach „angesichts schwieriger Umstände“ aufgeschoben. „Wenn die dann volljährig die Lehre beginnen, ist natürlich der Einfluß der Eltern nur noch gering“, sagt Grapp.

 Grapp sieht darüber hinaus noch drei grundsätzliche Probleme: „Einmal das schulische Manko. Bei uns in der Elektrotechnik ist ein Verständnis für Mathematik und Physik elementar. Da hapert es oftmals. Das können wir nicht in der Lehre beibringen. Da ist es unverständlich, daß solche Bewerber sich überhaupt bei mir melden. Da fragt man sich, ob die sich vorab überhaupt informiert haben. Und dann mangelt es an genügend Leistungsbereitschaft.“ Das liege allerdings am Elternhaus. „Mir scheint es so, als ob immer weniger Eltern sich für die Abschlüsse ihrer Kinder, sei es in der Schule oder in der Lehre, interessieren.“

 Die Idee der dualen Ausbildung in Deutschland bezeichnete das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung einmal als Erfolgsmodell. Darunter versteht man die Ausbildung in Handwerk und Industrie an der Berufsschule und im Betrieb mit abschließender Prüfung vor den jeweiligen Kammern. Doch solch eine Ausbildung kostet Zeit und Geld – nämlich das des Lehrherrn. Grapp rechnet vor: „Der Lehrling hat 220 Arbeitstage. Davon stehen ihm 24 Urlaubstage zu. Darüber hinaus hat er 20 Tage überbetriebliche Ausbildung und 80 Berufsschultage. Das sind 124 Tage. Und damit arbeitet er weniger als die Hälfte im Betrieb. Dazu kalkuliere ich noch fünf bis zehn Krankheitstage ein.“ Über 60 Lehrlinge bildete Grapp seit 1993 aus. „Was ich in der Rückschau sagen kann, ist, daß der Leistungsgedanke immer stärker verschwindet. Dabei brauchen wir ihn. Der Jugend muß das Gefühl wieder vermittelt werden, daß mit Fleiß, etwas Glück und viel Gesundheit ein jeder etwas schaffen kann. Leistung soll sich wieder lohnen.“

(Grafik siehe PDF)

Foto: Steckdosen unter Putz (o.); Elektromeister Jürgen Grapp (59) auf dem Firmenparkplatz (u.): „Und dann mangelt es an genügend Leistungsbereitschaft.“ Nur einer von vier Lehrlingen schließt seine Ausbildung ab