© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Ruhe ins Kartenhaus bringen
Pakistan: Premierminister Imran Khan bangt nach den Ereignissen in Afghanistan um die Stabilität in seinem Land
Jörg Sobolewski

Es waren klare Worte, die Pakistans Premierminister Imran Khan einen Tag nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul an sein Volk richtete. Die Afghanen hätten sich vom Joch der „mentalen Sklaverei“ befreit, bekräftigte Khan im öffentlichen Rundfunk. Seine Bewertung der Geschehnisse im Nachbarland wirft die Frage auf, wieviel Rückhalt die afghanischen Gotteskrieger wirklich in Islamabad genießen. 

Für Pakistans Erzfeind Indien ist die Situation klar. „Taliban Khan“ sei nicht nur inhaltlich, sondern auch politisch auf der Seite der neuen Regierung in Kabul, schrieb die indische Journalistin Ashali Varma in der englischsprachigen Tageszeitung Times of India. Tatsächlich dürfte Pakistan hinsichtlich der alten Bekannten im Norden gemischte Gefühle in sich tragen, denn die Atommacht mit über 225 Millionen Einwohnern hat ihr eigenes Stabilitätsproblem.

 Die Grenzlinie zwischen Afghanistan führt mitten durch die Siedlungsgebiete der Paschtunen, die in Afghanistan zur größten, in Pakistan zur zweitgrößten Volksgruppe gehören. Das sorgt für Schwierigkeiten, denn jede politische Erschütterung auf einer Seite der Grenze wird sofort auf der anderen Seite gespiegelt. 

Geheimdienst unterstützte Taliban mit Ausrüstung

Seit dem sowjetischen Einmarsch 1979 flohen Millionen Afghanen, vor allem Paschtunen, in das benachbarte Pakistan. Viele von ihnen kehrten wenige Jahre später als ausgebildete Gotteskrieger zurück und bilden seitdem den Grundstock der Taliban. Verantwortlich für die Ausbildung und Ausrüstung war nicht zuletzt der pakistanische Geheimdienst ISI, eine zunächst komfortable Lage für Islamabad, die sich nach 2001 aber zu einem Alptraum entwickelte. Pakistan wurde von einem Verbündeten der Taliban notgedrungen zu deren Gegner. Auf amerikanischen Druck hin reihte sich das Land in die Anti-Terror-Koalition ein. Die ehemaligen paschtunischen Freunde reagierten mit Anschlägen und sukzessive verlor Pakistans Zentralregierung die Kontrolle über deren Stammesgebiete. 

In der Folge dieser Ereignisse reaktivierte die Regierung in Islamabad die alten Kontakte zu den islamischen Kriegern und unterstützte die Bemühung des ehemaligen US-Präsidenten Trump, eine Verhandlungslösung für das Nachbarland zu finden. 

Khan hält seit 2018 die Zügel der Macht in Islamabad in der Hand. Dem wirtschaftsliberalen Zentristen mit islamfreundlichen Zügen ist es größtenteils gelungen, die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Gruppierungen des Landes zum Ausgleich zu bringen, eine Herausforderung in dem Land mit mehr als sieben verschiedenen Volksgruppen und über 22 gesprochenen Sprachen.

 Mitverantwortlich für das Gelingen sind auch die engen Beziehungen zur Volksrepublik China. Der mächtige Verbündete im Osten vergibt unkompliziert Kredite für Infrastrukturmaßnahmen und investiert auch selbst kräftig in das Land, wie Pakistans Botschafter in Deutschland, Mohammed Faisal, im Mai auf einer Veranstaltung in Berlin zugab. „China verhandelt mit uns über Zahlen. Wir sagen, was wir brauchen, und dann werden wir uns handelseinig.“ Mit dem Westen sei das „nicht immer so einfach“. 

Neuer Migrationsstrom wäre verheerend

Daß Premierminister Khan vor allem auf diese profitable Partnerschaft blickt, wenn er zu „Ruhe in der Region“ aufruft, ist nicht überraschend. „Pakistan hat in den letzten dreißig Jahren mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land“, gibt Faisal zu bedenken. Eine neuer Migrationsstrom wäre für Pakistan verheerend. Es sei derzeit schwierig, mit den Islamisten zu verhandeln, betont Khan. Pakistan werde dennoch das Gespräch mit der Regierung in Kabul suchen, denn die Stabilität der Region stehe für sein Land an erster Stelle.

 Hintergrund Seite 12

Foto: Pakistans Premierminister Imran Khan: Er will mit den Taliban in Kabul verhandeln