© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Grüße aus … Rio
Schnee im August
Wolfgang Bendel

Während in Deutschland gerade noch Badesaison ist, herrscht in Brasilien Winter. „Schau her ich bin im Schwimmbad, und das im August!“ rief ein kleiner Bub beifallheischend in Richtung seiner Mutter, als er jüngst seine ersten Schwimmbewegungen im Pool der brasilianischen Wohnanlage machte. Er war zu Recht stolz auf sich. Derzeit meiden die restlichen Bewohner nämlich das ausgedehnte Becken und tauchen allenfalls zögerlich ihre Zehen ins Wasser, um dann festzustellen: „Oh, das ist aber kalt!“ Angesichts des großen Volumens, der Pool ist 20 Meter lang und rund zwei Meter tief, hatten die Sonnenstrahlen während der wenigen warmen Stunden vom späten Vormittag bis in den frühen Nachmittag nicht die Kraft, das gesamte Wasser aufzuwärmen. 

Für brasilianische Verhältnisse hatte das Wasser antarktische Temperaturen angenommen. Schuld daran ist eine seit Wochen anhaltende Kaltfront, deren Ausläufer bis in den Bundesstaat Bahia nach Norden vorgedrungen ist. Im Süden des Landes ist der Wintereinbruch noch heftiger. In den Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina gab es tagelang Minustemperaturen, und in höheren Lagen fiel Schnee, der sogar tagsüber liegenblieb. Die brasilianischen Medien sprachen in ihren Berichten von der heftigsten Kältewelle in diesem Jahrhundert. 

Brasilianer reisten in betroffene Gebiete, um mit eigenen Augen Schnee zu sehen.

Antarktische Kaltluft war auch über Patagonien und den Südatlantik nach Norden vorgedrungen und hatte erst auf der Höhe von Salvador ihre Stärke verloren. Minusgrade und leichter Schneefall in höheren Lagen sind in den genannten Bundesstaaten keine Seltenheit und kommen fast jeden Südwinter vor. Diesmal überraschte n aber die Dauer des Wetterextrems und die Heftigkeit der Schneefälle. Für die meisten Brasilianer waren die Wetterkapriolen das Gesprächsthema schlechthin. Die Kälte verdrängte sogar die Berichterstattung über das Coronavirus von der Spitzenposition in den Medien. Einige Brasilianer reisten in die betroffenen Gebiete, um häufig zum ersten mal in ihrem Leben mit eigenen Augen Schnee zu sehen. 

Betroffene Städte wie São Joaquim in Santa Catarina registrierten gar einen Ansturm von „Schneetouristen“. In einigen Hochlagen dieses Bundesstaates fielen die Temperaturen kurzzeitig auf unter zehn Grad Minus.Was für die einen von großem Unterhaltungswert war, entwickelte sich für andere zur lebensbedrohlichen Katastrophe. In der Millionenstadt São Paulo erfroren mindestens 17 Obdachlose. Im Land der Bikinischönheiten, des vermeintlich immer blauen Himmels und der traumhaften Strände war eine ganz andere Realität eingezogen. Die globale Erwärmung hatte in dieser Gegend wohl für einige Wochen eine Verschnaufpause eingelegt.