© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Vielvölkerstaat am Rand des Abgrunds
Äthiopien: Der Aufstand der Tigray-Region entzweit das Land
Paolo Collovati

Die Welt schaut auf Äthiopien. Wieder einmal. In dem Vielvölkerstaat tobt ein Bürgerkrieg, der zunächst eine Massenflucht und nun auch eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Betroffen ist vor allem die Region Tigray. Der Konflikt begann als politischer Streit zwischen Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2019 den Friedensnobelpreis erhielt, und den Anführern aus Tigray, die fast drei Jahrzehnte die Regierung des Landes dominiert hatten und 2018 von Ahmed entmachtet wurden. Viele Menschen in der Region fühlten sich von der Zentralregierung nicht vertreten und forderten mehr Autonomie.

 Die Regierung des Landes hatte daraufhin im November 2020 eine Militäroffensive gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) begonnen, woraufhin mehrere Hunderttausend Menschen flüchteten. Schätzungen zufolge sollen mittlerweile rund 10.000 Personen getötet worden sein, die Vereinten Nationen erklärten in der vergangenen Woche, dass mehrere Millionen Menschen akut von Hungersnot bedroht seien.

Präsident Ahmed ruft alle fähigen Äthiopier zur Armee 

Ahmeds Regierung hatte die TPLF als terroristische Organisation eingestuft. „In den letzten drei Jahren gab es eine Reihe von Angriffen auf die Zivilbevölkerung in verschiedenen Teilen des Landes, um die Reformen rückgängig zu machen, die durch die Forderungen und den Kampf des äthiopischen Volkes für Demokratie und Menschenrechte eingeleitet wurden“, erklärte die Regierung im Mai. Infolgedessen seien „viele Menschen getötet und verstümmelt, Bürger vertrieben und Eigentum zerstört“ worden. Die Anschläge, die sich in verschiedenen Teilen des Landes ereigneten, hätten unterschiedliche Täter. Hinter den Anschlägen stünden jedoch Gruppen, die eine führende Rolle bei der Organisation, der Finanzierung, der Ideenfindung, der Ausbildung der Täter, der Berichterstattung in den Medien und der Unterstützung gespielt hätten. Da die TPLF als Terroristen agiert und ihre Führungskräfte oder Entscheidungsträger destruktive Aktivitäten gegen die Nation zugegeben hätten, sei sie als terroristische Organisationen zu bezeichnen, betont die RegierungAddis Abeba

 Die nach anfänglichen militärischen Erfolgen plötzlich in die Defensive geratene Regierung rief vor kurzem alle Bürger auf, die Truppen aus Tigray „ein für allemal“ zu stoppen. Abiy Ahmed appellierte in einer auch über Twitter verbreiteten Nachricht an „alle fähigen Äthiopier“, sich bei der Armee, Spezialeinheiten und Milizen zu melden und sich dem Kampf anzuschließen. 

Es sei Zeit für sie, „ihren Patriotismus“ unter Beweis zu stellen. Hintergrund sind massive militärische Rückschläge für die Regierungstruppen. Ende Juni eroberte die TPLF die Regionalhauptstadt Mekelle zurück und hat seitdem weitere Geländegewinne erzielt. Die Kämpfe im Norden des Landes haben mittlerweile auf die angrenzenden Regionen Amhara und Afar übergegriffen. 

Einen Effekt auf das Kriegsgeschehen hatten diese Maßnahmen allerdings nur insoweit, als sie die Geschlossenheit der Rebellen stärkte und sich die Bevölkerung Tigrays praktisch geschlossen hinter ihre Regierung und die TPLF stellte. Insbesondere die militärische Führung der TPLF ist erfahren und besteht teilweise aus Generälen, die zuvor aus der äthiopischen Armee entlassen wurden, weil sie aus Tigray stammten.

Vor dem Hintergrund der Kämpfe beschuldigte der stellvertretende Premier und Außenminister Demeke Mekonnen nach Angaben der äthiopischen Nachrichtenagentur ENA die US-Regierung, zu all den Verbrechen und dem Verrat der TPLF zu schweigen. Demeke habe betont, daß das Schweigen der USA „ungewöhnlich und unvereinbar mit den Beziehungen zwischen den beiden brüderlichen Ländern“ sei, so die ENA.

Aurelia Brazeal, die von 2002 bis 2005 US-Botschafterin in Äthiopien war, kritisierte dagegen die Politik Abiy Ahmeds, die es nicht geschafft habe, die vielen unterschiedlichen ethnischen und sprachlichen Bevölkerungsgruppen des Landes am Horn von Afrika mit seinen 110 Millionen Einwohnern zu einen. 

Historisch gesehen, so Brazeals Einschätzung, bevorzugen die Amharen (20 Millionen Menschen) und die Oromo (25,5 Millionen), denen Abiy Ahmed angehört, eine starke Zentralregierung, während sich die kleineren ethnischen Gruppen, wie die Tigray (4,5 Millionen), an den Rand gedrängt fühlen.

Foto. Ein Anhänger des äthiopischen  Präsidenten protestiert auf dem Meskel-Platz, einem zentralen Platz in Addis Abeba, gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray: Diese kämpft für ein Comeback, nachdem sie 2018 nach drei Jahren regierungsfeindlicher Proteste abgesetzt wurde