© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Verfassungsrichter monieren Verzinsung von Steuernachforderungen
Ein übergriffiger Staat
Reiner Osbild

Erneut mußte dem deutschen Gesetzgeber juristische Nachhilfe erteilt werden. Dieses Mal betraf es den Zins, den die Finanzämter auf Steuernachzahlungen erheben: Er war seit 1961 nicht angepaßt worden und betrug sechs Prozent. Daß dieser aus der Zeit gefallene Wert auch auf Steuererstattungen angewendet wurde, macht die Sache nicht besser. Gerade Firmen sehen sich oft mit Nachforderungen konfrontiert. Aus einer Steuerschuld von 100.000 Euro werden bei vier Jahren Verzug schlappe 126.247 Euro – diese müssen aus bereits versteuertem Einkommen geleistet werden und können nicht nachträglich als Betriebsausgabe geltend gemacht werden. Dem hat das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17) jetzt zumindest ein Riegelchen vorgeschoben.

Während das Bundesfinanzministerium wegen des anhängigen Verfahrens vorsorglich auf die Erhebung verzichtet hatte, zeigten sich viele Städte und Gemeinden uneinsichtig. Um deren Gewerbesteuer ging es bei dem Verfahren in Karlsruhe. Die Begründung, die der Städtetag und der Städte- und Gemeindebund dort vortrugen, spiegelt den geringen Respekt vor dem verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsrecht der betroffenen Steuerbürger wider: „Die Abschöpfung des Liquiditätsvorteils sei unabhängig vom aktuellen Zinsniveau angemessen und leiste einen wichtigen Beitrag zur fristgerechten Erfüllung der steuerlichen Zahlungsverpflichtungen. Städte, Kreise und Gemeinden befänden sich derzeit in der schwersten finanziellen Krise seit Bestehen der Bundesrepublik. Eine rückwirkende Änderung des Zinssatzes würde die Kommunen in der aktuellen Situation besonders hart treffen und ihre Handlungsfähigkeit spürbar einschränken.“

Trotz historisch üppiger Einnahmen machten sie einen Notstand geltend, der in ihren Augen einen Verfassungsbruch rechtfertigt. Dabei sprudelten die kommunalen Steuereinnahmen vor Corona nur so und eilten von Rekord zu Rekord. Sie betrugen 2019 satte 111,5 Milliarden Euro. Seit dem Jahr 2000 verzeichnete die kommunale Ebene ein jährliches Plus von im Schnitt 3,6 Prozent. Dies straft all diejenigen Lügen, die nun eine Notlage geltend machen wollen. Selbst in der Coronakrise wurden die Städte und Gemeinden üppig ausgestattet. Bund und Länder erstatteten ihnen die geschätzten zwölf Milliarden Euro an Gewerbesteuerausfällen und setzten zudem eine Teilentschuldung in Gang.

Zwar sind die Karlsruher Richter dieser dreisten Argumentation nicht gefolgt und haben eine Rückzahlung rückwirkend ab 2019 verhängt, aber dies gilt nur noch für offene Steuerbescheide. Auch die Wucherzinsen der Jahre davor verbleiben in öffentlicher Hand. Wenn aber solche Urteile dem Fiskus nicht wirklich weh tun, hat er auch künftig keinen Anreiz, sein Gebaren zu ändern. Er kann ungeniert zugreifen und darauf hoffen, daß im Zweifel erst sehr spät entschieden wird und er dann auch noch einen Teil der Beute von den Steuerbürgern behalten darf.

Das Recht muß gegenüber den Regierenden viel stringenter durchgesetzt werden. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Papst Benedikt XVI. zitierte ihn 22. September 2011 in seiner Rede vor dem Bundestag. Zugehört hat wohl keiner, weder in Berlin noch in Karlsruhe.





Prof. Dr. Reiner Osbild ist Ökonom und Ordinarius an der Hochschule Emden/Leer.