© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Ein schwerer Auftakt
Afghanistan: Die Regierungsbildung gestaltet sich schwierig, die Nachbarn schauen gespannt auf Kabul und die Bevölkerung harrt der Dinge
Marc Zoellner

Freude und Verblüffung spiegelten sich in den Gesichtern der Mudschaheddin wider, als die Nachricht ihrer Kommandanten über Funktelefon eintraf: Puli Hisar ist befreit, zumindest für den Moment, verkündete am vergangenen Samstag eine der letzten verbliebenen Widerstandsgruppen gegen das Taliban-Regime, die sich gut zweihundert Kilometer nordöstlich der afghanischen Hauptstadt Kabul in mehreren Bergtälern gegen die neuen Machthaber des Landes abgeschottet halten. „Lokale Truppen haben in der Provinz Baglan die Distrikte Banu und Puli Hisar von den Taliban zurückerobert“, bestätigte noch am selben Tag der in London ansässige Nachrichtensender Iran International unter Berufung auf ehemalige afghanische Regierungsangehörige. „Sie dringen nun in den Distrikt Dih Salah vor. Etwa sechzig Talibankämpfer wurden getötet oder verletzt.“

Es war eine kurze erste Schlacht um den östlichsten der Distrikte der Provinz Baglan, die der Weltöffentlichkeit jedoch verdeutlichte, daß der Krieg in Afghanistan auch mit dem Sturz der von der internationalen Staatengemeinschaft gestützten Regierung des Präsidenten Ashraf Ghani längst noch nicht vorbei ist. Die radikalislamischen Talibanmilizen hatten nach fast exakt zwanzig Kriegsjahren am 15. August die Millionenmetropole Kabul beinahe kampflos einnehmen können, als die USA ihren beschleunigten Truppenabzug aus Afghanistan vollzogen. 

Taliban wollen die Rechte „eines jeden schützen“ 

Mit der plötzlich fehlenden Rückendeckung durch die bislang US-geführte Luftaufklärung brachen die Fronten der Afghanischen Nationalarmee (ANA) über Nacht in sich zusammen. Ghani hatte eine der ersten startbereiten Maschinen am Kabuler Flughafen gechartert und floh, mutmaßlich mit einem Teil der afghanischen Staatskasse, am selben Tag erst nach Tadschikistan, später in die Vereinigten Arabischen Emirate ins Exil. Einen Asaylantrag  hatten die Vereinigten Staaten bereits vorab abgelehnt, ebenso wie Ghanis weitere Anerkennung als Staatsoberhaupt Afghanistans durch die USA. „Er spielt keine Rolle mehr in Afghanistan“, erklärte US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman Ende vergangener Woche lapidar.

Ähnlich wie die USA betrachten auch die Taliban als neue Machthaber Ghanis Personalie. Zwar beteuert der geflohene Präsident, sein Asylstatus in den VAE sei nur vorübergehender Natur und er selbst wolle so bald wie möglich zurück nach Afghanistan reisen wollen, um an einer Übergangsregierung des Landes mitzuwirken. Doch zu den jüngsten Verhandlungen zwischen den Taliban und ehemaligen Regierungsvertretern über eine dauerhafte politische Lösung des Konfliktes am Hindukusch ist Ghani, anders als der langjährig amtierende Staatsführer Hamid Karzai, der Afghanistan von 2001 bis 2014 regierte, von den Radikalislamisten explizit nicht eingeladen worden. Zwar hatten die Taliban im Zuge ihrer Machtübernahme erklärt, sämtliche ehemaligen politischen Gegner ihrer Bewegung würden vom neuen Regime in Kabul begnadigt. Allein Ghani gilt auf dem diplomatischen Parkett weiterhin als Persona non grata, als nicht erwünschte Person.

Prinzipiell ist die derzeitige politische Situation Afghanistans selbst für langjährige Beobachter nur schwer einzuschätzen. Dies liegt auch und vor allem an den Taliban, die selbst nicht mit einer Machtübernahme in jenem kurzfristigen Zeitraum gerechnet zu haben scheinen. Auch eine Woche nach dem Fall Kabuls konnten die ins Licht der Weltöffentlichkeit geratenen Führer der Radikalislamisten noch keine konkreten Angaben zum Aufbau ihres neuen Regimes machen. 

Eigenständige Gesetze hatten die Taliban auch eine Woche nach dem Fall Kabuls noch nicht erlassen, ihre Milizionäre, berichten ansässige Journalisten, kümmern sich derzeit bevorzugt um die Wahrung der öffentlichen Ordnung, gehen gegen Plünderer und Diebe vor und helfen sogar bei der Evakuierung ausländischer Staatsbürger. Trotz alledem herrscht in der Bevölkerung Kabuls Schockstarre. „Niemand hört mehr in der Öffentlichkeit Musik“, berichtet die afghanische Nachrichtenagentur Khaama Press. „Auch in Restaurants wird keine laute Musik mehr gespielt, wie es früher der Fall war, um Gäste anzulocken. Die Menschen gehen kein Risiko ein weil sie sich an das Taliban-Regime in den neunziger Jahren erinnern, als all dies verboten war.“

Die Taliban geben sich derzeit alle Mühe, betont moderat zu erscheinen. „Wir haben Experten der ehemaligen Regierung einbestellt, um diese Krise zu bewältigen“, erklärte ein Talibanvertreter am Wochenende der Nachrichtenagentur Reuters. Afghanistans neues Regierungssystem würde zwar keine Demokratie nach westlicher Definition werden, jedoch „die Rechte eines jeden schützen“. 

Wie hingegen der afghanische TV-Sender Tolo News berichtete, dürften noch mehrere Wochen vergehen, bis die Taliban-Führung überhaupt eine Rahmenvereinbarung zur Schaffung einer neuen afghanischen Verfassung verkünden. Allerdings stehen bereits vier ranghohe Taliban fest, die mit Sicherheit ein politisches Amt innerhalb der neuen Regierung anstreben. 

Einer von ihnen, der Taliban-Mitbegründer Abdul Ghani Baradar, landete am Samstag zeitgleich zu den Gefechten von Puli Hisar in Kabul, nachdem er vergangene Woche nach mehrjährigem Exil im Golfstaat Katar über Kandahar zurück in sein Heimatland geflogen war. In Baradar, der aufgrund terroristischer Aktivitäten acht Jahre lang in einem pakistanischen Gefängnis saß und im Anschluß die Verhandlungsrunden der Taliban im katarischen Doha um den US-Truppenabzug leitete, sehen regionale Medienvertreter bereits den künftigen Außenminister des „Islamischen Emirats“, wie Afghanistan unter den Taliban betitelt wird.

Baradar dürfte ein schwerer Auftakt erwarten,  schließlich wird die Taliban-Herrschaft über Afghanistan noch von keinem anderen Staat der Welt anerkannt. Gerade Rußland tut sich schwer – der Kreml hatte die Taliban schon 2003 auf seine Liste von Terrororganisationen gesetzt. Moskau sieht die Machtübernahme der Islamisten als ernste Gefährdung seiner Interessen in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken. Und hier geht Rußland auch mit China konform: Zwar sehen beide Regierungen das Scheitern der US-Intervention im afghanischen Bürgerkrieg mit Genugtuung. Doch sowohl Moskau als auch Peking befürchten einen von Afghanistan ausgehenden Flächenbrand islamistischer Ideologien, der einerseits auf die zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken und andererseits auf die von muslimischen Uiguren bewohnte westchinesische Provinz Xinjiang übergreifen könnte. 

„Wir werden niemandem erlauben, afghanisches Gebiet zu nutzen, um Rußland oder unsere benachbarten Staaten anzugreifen“, betonte Taliban-Sprecher Muhammad Suheil Shaheen zwar Ende Juli bei einer Visite in Moskau. Als demonstrative Warnung hielten Rußland und China nur zwei Wochen später eine gemeinsame Militärübung am chinesisch-afghanischen Grenzstreifen ab. In Tadschikistan läßt Moskau überdies seinen Militärstützpunkt für schnelle Eingreiftruppen massiv erweitern. Die Taliban, erklärte Zamir Kabulov, Rußlands Botschafter in Kabul, würden erst anerkannt, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Islamisten von der Liste der Terrororganisationen streiche – hier  werde Rußland keinen Alleingang unternehmen –, und auch dann nur, wenn die Taliban „das Land in naher Zukunft in verantwortlicher Weise regieren“.

Bezüglich der Quetta Shura, des Führungsgremiums der Taliban, das sich nach seinem Sitz in der pakistanischen Stadt Quetta benannt hat, dürfen diesbezügliche Zweifel gerechtfertigt sein – nicht nur angesichts der zahllosen Hinrichtungen von Dissidenten im Anschluß an die Machtergreifung der Taliban. Allein der islamische Rechtsgelehrte Hibatulla Achundsada, nach dem Tod seiner beiden Vorgänger der dritte Anführer in der Geschichte der Taliban, gilt als religiöser Hardliner im Verhängen schariatreuer Urteile. 

Mit Mohammad Yaqoob übernimmt zudem ein direkter Sohn des Taliban-Gründers Mohammed Omar die Vizeführungsrolle in der Islamistengruppe. Für die Ergreifung des Warlords Siradschuddin Haqqani vom gleichnamigen Haqqani-Netzwerk, einer eigenständigen terroristischen Milizenbewegung innerhalb der Taliban, hat das US-Außenministerium eine Belohnung von bis zu zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt. Neben Yaqoob wird Haqqani als einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden in einer Taliban-Regierung unter dem Vorsitz Achundsadas gehandelt.

Angesichts dieser Konstellation ziehen derzeit Zehntausende Afghanen die Flucht in benachbarte wie in entferntere Staaten vor. Da die Taliban ein Dutzend der wichtigsten Grenzübergänge kontrollieren, zählt gegenwärtig etwa jeder zehnte der insgesamt 38 Millionen Einwohner Afghanistans als Binnenflüchtling. Hunderten Piloten und Soldaten der ANA gelang allerdings bereits die Flucht nach Zentralasien. Einen Ansturm von Flüchtlingen wie in der Syrienkrise wollen die meisten europäischen Staaten unbedingt vermeiden. „Ich bin nicht der Meinung, daß wir in Österreich mehr Menschen aufnehmen sollten, sondern ganz im Gegenteil“, begründete Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz seine Verweigerung. „Menschen aufzunehmen, die man dann nicht integrieren kann, das ist ein Riesenproblem für uns als Land.“ 

Auch Uganda will sich der Migranten annehmen

US-Präsident Joe Biden stellte vergangene Woche 500 Millionen US-Dollar für „Opfer des Konflikts und andere gefährdete Personen“ zur Verfügung, ohne allerdings eine exakte Anzahl derer zu benennen, die in den USA unterkommen dürften. Nördlich von Afghanistan errichten Tadschikistan und Usbekistan Zeltstädte für bis zu 100.000 Flüchtlinge. Der ostafrikanische Staat Uganda willigte bereits in die Aufnahme von 2.000 vertriebenen Afghanen ein.

Sollte sich der militärische Widerstand gegen das Taliban-Regime landesweit ausbreiten, könnte, so zynisch es klingen mag, auch diese Entwicklung weitere Fluchtwellen verursachen. Der „Islamische Staat – Provinz Khorasan“ (ISKP), ein Ableger des syrisch-irakischen IS, kündigte bereits Anschläge auf Taliban-Einrichtungen und westliches Militär in Kabul an. Unterdessen brachen noch am Wochenende Hunderte Talibankämpfer zur Wiedereroberung Baglans auf. Am Montag wurde vom erneuten Fall Puli Hisars berichtet. In der benachbarten Provinz Pandschschir versammelten sich demgegenüber mehrere Tausend Mudschaheddin unter der Führung von Ahmad Massoud, dem Sohn des von Islamisten am 9. September 2001 getöteten afghanischen Nationalhelden Ahmad Schah Massoud, zur Neugründung der historischen „Nordallianz“ gegen die Taliban. Im Gegensatz zu dem geflohenen ehemaligen Präsidenten Ashraf Ghani sind hier mit Afghanistans Vizepräsident Amrullah Saleh und Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi tatsächlich auch prominente Politiker dabei, ein erfolgversprechendes Bündnis zur Rückeroberung ihres Landes zu schmieden.

Foto:  Taliban-Delegation unter der Leitung von Abdul G. Baradar (M.) beim Moskauer Friedensgipfel im März: Außer Spesen nichts gewesen