© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Die Illusionen sind widerlegt
Universalismus-Anspruch: Der Westen muß zur Kenntnis nehmen, daß in der Welt Kulturräume existieren, in denen seine Maßstäbe und Werte nicht greifen
Thorsten Hinz

Die Bilder aus Afghanistan von bärtigen und turbantragenden Motorrad-Brigaden der Taliban, die mit leichten Waffen in die Provinzhauptstädte und schließlich nach Kabul einrückten, während die vom Westen ausgerüstete und ausgebildete afghanische Armee unauffindbar blieb, sind illustrierte Geschichte in Echtzeit. Den Sicherheitskräften des angeblich neuen Afghanistan mangelte es weder an Zahl noch an Kriegsmaterial, wohl aber an der Kampfmoral, an den seelisch-geistigen Faktoren, ohne die ein Waffengang aussichtslos ist.

Der preußische General und Heeresreformer Clausewitz nennt drei „moralische Hauptpotenzen“, die im Krieg zu soldatischer Haltung motivieren: „Sie sind: die Talente des Feldherrn, kriegerische Tugend des Heeres, Volksgeist desselben.“ Kriegerische Talente und Tugenden haben die Afghanen in ihrer Geschichte wieder und wieder unter Beweis gestellt. Doch offenbar stand der „Volksgeist“, der die Rekruten erfüllte, nicht auf der Seite des Westens. Sie verspürten schlichtweg keinen Drang, ihr Leben gegen die Krieger Allahs, die ja auch Glaubensbrüder sind, und für „westliche Werte“ in die Schanze zu schlagen. 

Die Hybris des Westens, sein Modell auf die Welt zu übertragen, hat ein Deaster angerichtet. Er muß zur Kenntnis nehmen, daß in der Welt Kulturräume existieren, in denen seine Maßstäbe und Werte nicht greifen. Der Hanswurst, der den deutschen Außenminister mimt, schwadronierte noch vor wenigen Wochen im Bundestag über die afghanische Zivilgesellschaft und Verfassung, die den Taliban als unüberwindliche Hindernisse entgegenstünden – ein letzter erbärmlicher Versuch, die Wirklichkeit in ein westlich-progressistisches Begriffskorsett zu zwingen. Eine leichte Begegnung mit der Realität hat ausgereicht, um die Worthülsen wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen.

Die Inkompetenz des Ministers ist sowohl eine persönliche als auch eine systemische. Die westliche Afghanistan-Politik beruhte zwanzig Jahre lang auf der Basis falscher Grundannahmen, die sich in Leerformeln wie „Nation-Building“, „Demokratie-Export“ oder „Modernisierung des Islam“ manifestierten. Nun zeigt sich, daß die dortige Regierung, die Armee- und Polizeiführung nichts anderes waren als ein korruptes Marionettenregime. Der Siegeszug der Taliban ist ein Triumph des 11. über ein 21. Jahrhundert, wie der Westen es verstehen möchte. Im 11. Jahrhundert brach in Europa zwischen Papst und Kaiser der Investiturstreit um das Primat der Macht aus. Für die Taliban bedeuten geistliche und weltliche Macht eine selbstverständliche Einheit und sie in Frage zu stellen eine todwürdige Blasphemie.

Diesmal handelt es sich nicht mehr nur um die widerlegten Illusionen abgetakelter Kolonial- und Mittelmächte, die gemeint hatten, ihre in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien nach dem eigenen liberalen oder republikanischen Bild formen zu können. Die gesamte westliche Welt ist im Schlepptau ihrer Führungs- und Supermacht exemplarisch mit dem Versuch gescheitert, ein nichtwestliches Land nach ihren Vorstellungen umzumodeln.

Die westlichen Politiker und ihre Berater haben die Qualität kultureller Differenzen nicht verstanden. Der Westen folgte der Vorstellung seines universellen, in seiner Verführungskraft unbezwingbaren Wertesystems und seines „Way of Life“, in dem die traditionellen Kulturen nur noch folkloristischen Nippes darstellen. In der Tat gibt es eine globale, durch mediale und technische Vernetzungen entstandene „Hyperkultur“. Ihr Transmissionsriemen ist der kapitalistische Kulturbetrieb, in dem amerikanische Medienkonzerne und Filmstudios die Vorherrschaft ausüben. Hinzu kommen die Bilder der westlichen Wohlstandsgesellschaft, die globale Begehrlichkeiten wecken. In diesem oberflächlichen Sinn ist die Welt tatsächlich verwestlicht.

Doch hat sich zugleich ein kultureller Essentialismus herausgebildet, der in historischen Tiefenschichten wurzelt und seelische Prägungen, religiöse Überzeugungen, Mythen, traditionelle Sitten und Gebräuche umfaßt. Indem der Westen seine Glaubens- und Besinnungslosigkeit leichtfertig auf die ganze Welt übertrug, hat er sein Imperium nicht nur politisch, militärisch, wirtschaftlich und finanziell, sondern auch moralisch und geistig-kulturell überdehnt.

Man hätte es besser wissen können. Samuel Huntingtons Buch „The Clash of Civilizations“ (übertrieben martialisch als „Kampf der Kulturen“ übersetzt) mag ein allzu simples Bild von den unterschiedlichen Kulturräumen oder -kreisen zeichnen, aber es liefert wichtige Hinweise auf die Konflikte, die wir jetzt haben. Die meisten Kulturkreise verfügen laut Huntington über „Kernstaaten“. Es liegt nahe, sein kulturalistisches Modell mit Carl Schmitts Entwurf politisch-territorialer Großräume zu verbinden. Diese sind als Ergebnis eines „staatlich-wirtschaftlichen Vergrößerungsvorgangs“ gedacht, der über die Einzelstaaten hinausgeht, zugleich aber einen Schutzraum für die nationale Freiheit und Selbständigkeit der „staatlich organisierten Völker“ bilden soll. Sein Interventionsverbot für raumfremde Mächte schützt ihn gegen Übergriffigkeit von außen. Seinerseits steht er zu anderen Großräumen im „schiedlich-friedlichen“ Verhältnis. „Nur deshalb ist er universalistischen Herrschaftsformen überlegen, und nur deshalb ist er Frieden.“ 

Der Westen aber verfolgte unter Führung der USA das Ziel einer universalistischen, liberalen Weltordnung. Im 20. Jahrhundert hatten die USA die Gültigkeit ihrer ursprünglich auf den amerikanischen Kontinent beschränkten Monroe-Doktrin auf die gesamte westliche Hemisphäre ausgedehnt, was auf die „Disqualifizierung und Diskriminierung der übrigen Welt“ (Carl Schmitt) hinauslief. Der US-Interventionismus war „nicht nur global, auch total“ und mischte sich in die sozialen, wirtschaftlichen und eben auch kulturellen Verhältnisse anderer Staaten ein. Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 schien endgültig ein liberales Zeitalter zu eröffnen und die Chance zu bieten, potentiell die ganze Welt in eine westliche Hemisphäre zu verwandeln mit den USA als Leuchtturm der Freiheit.

Was im kulturell verwandten Europa zum Erfolg geführt hatte, erwies sich im Verhältnis zu anderen Kulturen als naiv. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 markierten eindrücklich das Ende der Illusion, die dennoch nicht aufgegeben wurde. Flugs wurde eine Reihe nichtwestlicher Länder zu „außerhalb des Rechts stehenden Schurkenstaaten“ erklärt, die man mit polizeilichen Strafaktionen überziehen durfte.

Der Politikwissenschaftler Huntington hingegen hatte keinem Kulturkrieg das Wort geredet, vielmehr im Sinne Carl Schmitts dafür plädiert, daß der Westen seinen universalistischen Anspruch und Missionierungsdrang aufgeben solle. In der britischen Monatszeitschrift Prospect schrieb er im Februar 1997 unter der Überschrift „Der Westen und der Rest“, die Annahme, daß moderne Gesellschaften nur einen einzigen Typus, den westlichen, bilden müssen und die moderne Zivilisation die westliche ist, das sei „arrogant, falsch und gefährlich“. Doch der Westen ließ sich in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien auf einen kulturell grundierten, globalen Bürgerkrieg ein. Parallel dazu vollendete Deutschland seine „vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens“ (Jürgen Habermas) 2015 mit der totalen Grenzöffnung. 

Nun will der Westen sich nicht primär machtpolitisch, sondern geistig, moralisch, philosophisch definiert wissen. Seine Wortführer verweisen auf seine „Werte“, auf den Universalismus der Menschenrechte, den Individualismus, die Toleranz, auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Streitfragen würden hier auf rationaler Grundlage entschieden, und die Wissenschaft sei die letzte Instanz in Wahrheitsfragen. Der Geltungsanspruch dieser Prinzipien sei unabhängig von kulturellen Kontexten.

Die verzweifelte Demokratiebewegung in Hongkong oder der Widerstand der Taiwanesen gegen die Vereinnnahmung durch das autoritäre China scheinen das zu bestätigen. Vielleicht wird selbst Afghanistan einen Investiturstreit, eine Reformation und sogar eine Säkularisierung erleben – eines fernen Tages. Die Streitfrage „Universalismus oder Partikularismus“ wird auf der akademischen Ebene weitergeführt werden. Auf der politischen Ebene aber zeichnet sich längst ab, daß die Versuche des Westens, seinen Universalismus-Anspruch missionarisch nach außen zu tragen, sich gegen ihn wenden. Die Einmischung in andere Kulturräume schlägt mit Wucht auf ihn zurück. Was dem Westen das Asyl- und die Menschenrechte sind, wird den anderen zum Mittel seiner moralischen und demographischen Erpressung.

Westliche Staatsmänner nehmen auf der internationalen Anklagebank Platz und beugen ihr Haupt vor arabischen oder afrikanischen Potentaten, die sich ereifern, weil in Europa noch immer nicht genug Moscheen errichtet oder Zuwanderer aus Afrika nicht rasch genug in die westlichen Sozialsysteme integriert werden. So wird der westliche Universalismus zur Praxis der Zerstörung und Selbstzerstörung. Nötig wäre ein Paradigmenwechsel, doch abgesehen davon, ob der in dreizehnter Stunde überhaupt noch möglich ist, sind unsere politischen und medialen Eliten weder mental noch intellektuell dazu in der Lage. 

Gerade weil sie politisch, moralisch und intellektuell widerlegt und delegitimiert sind, halten sie um so entschlossener an der destruktiven Entwicklung, deren Teil sie sind, fest und verschärfen die Repression nach innen. Dabei werden die Restbestände der „westlichen Werte“, die sie zu verteidigen vorgeben, abgeräumt. Inzwischen sind wir soweit, daß die wissenschaftliche Evidenz nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Medizin durch politisch-ideologische Dogmen ersetzt wird.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq, der genaueste literarische Analytiker der geistig-moralischen Regression, sieht den Westen und überhaupt die Moderne in einer suizidalen Spirale gefangen. In einem kürzlich zuerst im britischen Online-Magazin „UnHerd“ veröffentlichten Text (auf deutsch als Gastbeitrag in der Welt am Sonntag vom 15. August) meldete er starke Zweifel an, ob die Menschen im Westen zur Selbstverteidigung überhaupt noch in der Lage seien, und fragte rhetorisch: „Wäre es dann ein Krieg zur Verteidigung ihrer Kultur, ihrer Lebensweise, ihres Wertesystems? Aber wovon genau sprechen wir dabei? Und wenn es sie gibt, lohnt es sich dann, sie zu verteidigen? Hat unsere ‘Zivilisation’ wirklich noch eine Substanz, auf die wir stolz sein können?“

Das Wertesystem unserer Zeit besteht aus Antisexismus, Antirassismus, Antikolonialismus, Antifaschismus, Antikapitalismus, Antiordnung, Anti-Atomkraft, Anti-Islamfeindlichkeit, Anti-Heteronormativität. Eine Ansammlung ideologisch motivierter Negationen, die keine positive Substanz ergibt.

Als im Mai 2017 die damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoğuz im Tagesspiegel äußerte, daß eine „spezifisch deutsche Kultur […], jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“ sei, zog die türkischstämmige SPD-Politikerin viel Zorn und auch Haß auf sich als Reaktion auf die Verachtung, die in ihren Worten mitschwang. Heute wäre der rationale Kern ihrer Aussage zu prüfen und danach zu fragen, ob die Verachtung nicht eine gewisse Berechtigung hat. Denn seitdem ist es noch schlimmer geworden. Gender-Aktivisten zerstören nun auch die deutsche Sprache, unseren letzten Kronschatz.

Den eigenen Kultur- als geographischen Großraum zu schützen ist angesichts der erfolgten und fortgesetzten Zuwanderung illusorisch. Blieben höchstens noch Sezessionen. Oder soll man darauf hoffen, daß das westliche Erbe in anderen Räumen weiterlebt? Daß beispielsweise chinesische Musiker unbefangen Mozart spielen, während westliche Schrumpfgeister damit beschäftigt sind, nach rassistischen Elementen im eigenen kulturellen Erbe zu schnüffeln?

Das Beste, was man momentan sagen kann, ist dies: Die Zukunft kennt viel mehr Möglichkeiten, als die Gegenwart erahnt.