© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Die Kapitalismuskritik von „Fratelli tutti“ greift zu kurz
Der blinde Fleck des Öko-Papstes
(dg)

Mit seiner neuen Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ vom 3. Oktober 2020 formuliert Papst Franziskus „zutreffend zentrale Kritikpunkte“ an der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, die für den Christliche Gesellschaftslehre vermittelnden Theologen Joachim Wiemeyer (Bochum) eher eine „Unordnung“ ist (Münchener Theologische Zeitschrift, 2/2021). Franziskus’ Lehrschreiben zeige, daß menschliche Grundbedürfnisse, materielle wie geistig-seelische, in einer kapitalistisch organisierten Sozial- und Wirtschaftsordnung nicht hinreichend befriedigend würden. Aus Sicht der christlichen Anthropologie stellen exzessiver Konsum, Vergnügen und reine mediale Unterhaltung keinen Lebenssinn dar. Überdies sei ein daran orientierter Lebensstil angesichts der weltweit bestehenden absoluten Armut weder sozial noch, wegen der verwüstenden Folgen für Natur und Umwelt, ökologisch zu rechtfertigen. Der Papst mache sich mit dieser fundamentalen Kapitalismuskritik zum Anwalt der „ökologischen Transformation der Wirtschaft“. Wenig konstruktiv daran sei jedoch, daß er Visionen entfalte, die sich auf wirklichkeitsfremde Ziele richteten. Surreal wirke es, wenn diese neue Enzyklika genauso wie ihre Vorgängerin zum Umwelt- und Klimaschutz („Laudato si’“, 2015) die „Problematik des Bevölkerungswachstums im ökologischen Kontext“ geradezu leugne. Dabei hätte die Corona-Pandemie den Vatikan für die Überbevölkerung im Globalen Süden sensibilisieren müssen. Dort dringe eine wachsende Zahl von Menschen auf der Suche nach Boden und Nahrung in Naturräume ein, wodurch die Gefahr des Überspringens tödlicher Viren von Tier zu Mensch steige. 


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