© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Fensterscheiben klirren in Bad Guldenberg
Omnipräsenter Rassismus: Der Schriftsteller Christoph Hein zeichnet in seinem neuen Roman ein Sittengemälde einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft
Felix Dirsch

Seit die Stimmenzahl der AfD in der ostdeutschen Provinz überdurchschnittlich hoch ist und linke Feuilletonisten verstärkt Anzeichen für eine dortige rechte Subkultur registrieren, sind diese Gegenden nicht mehr hauptsächlich uninteressante Regionen, in denen Wendeverlierer siedeln. Vielmehr gelten sie nunmehr sogar als attraktive Beobachtungsräume für Literaten, die ihre Eindrücke in fiktiven Stoffen verarbeiten. 

Solche Übersetzungen gelingen mal mehr, mal weniger gut. Die Autorin und Juristin Juli Zeh hat in ihren Romanen „Unterleuten“ und „Über Menschen“ (JF 27/21) die sozialen Mechanismen des Dorflebens in vielen Facetten dargestellt. Auch sprachlich sind diese Versuche hervorragend gelungen. Zehs Erzählweise setzt Maßstäbe.

Christoph Hein, Chronist der DDR und für sein umfangreiches Werk mehrfach ausgezeichnet, möchte in die Fußstapfen der jüngeren Kollegin treten. Er hat in den letzten Jahren anspruchsvolle Werke vorgelegt. Aus ihnen sticht der Roman „Trutz“ hervor (JF 26/17), der ein beklemmendes Panorama von der Sowjetunion der 1920er Jahre über die frühe DDR bis in die Zeit nach dem Mauerfall ausbreitet.

Dieses Niveau erreicht der neue Roman „Guldenberg“ nicht einmal annäherungsweise. Hein nimmt diesmal die Rolle des besorgten Bürgers ein, der nicht abseits stehen und einen Beitrag zur Gegenwartsdebatte leisten will. Die Bewohner des fiktiven Städtchens Bad Guldenberg leben lange Zeit, trotz der Umbrüche nach der Wiedervereinigung, friedlich vor sich hin. Die Situation ändert sich, als Migranten aus verschiedenen Ländern im Alten Seglerheim einquartiert werden. Nichts ist danach noch wie vorher. Die Älteren erinnern sich noch an Zeiten, als Sinti und Roma kurzzeitig Aufregung verursacht haben; sie verließen den Ort aber bald wieder. Die Erregungswelle, die nun durch Guldenberg schwappt, ist überall zu registrieren. „Das gemächliche Selbstverständnis der kleinen Stadt, das von einem geschichtslosen Alltag und dem gewöhnlichen Rhythmus eines erschöpften Schlendrians geprägt war, wich einer auffälligen Verunsicherung, spürbar in einem überspannten gegenseitigen Mißtrauen.“

Der Bürgermeister macht sich für die Flüchtlinge stark

Weiter heißt es eingangs: „Guldenberg war diese Erregung nicht gewohnt, man lebte hier anders als anderswo in der Welt. Man hatte davon gehört, daß in den großen Städten wie Berlin oder Paris gelegentlich Scheiben eingeschlagen wurden. Von sexuellen Übergriffen und gar Vergewaltigungen hatte man schaudernd in der Zeitung gelesen, aber das waren Vorfälle aus einer anderen Welt, derlei gab es in Guldenberg nicht.“

Der Autor gibt mittels zahlreicher Dialoge Einblicke in den sozialen Mikrokosmos. Der Leser begegnet neben den minderjährigen Migranten einem verzweifelten Pfarrer, der sich mit vermeintlichen Ausländerfeinden selbst in seinem Pfarrgemeinderat herumschlagen muß, seiner neugierigen Haushälterin, einem Unternehmer mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, einer idealistischen Flüchtlingsbetreuerin, die mitunter scharf angegriffen wird, einem Bürgermeister, einem vierzehnjährigen Mädchen, das aus Angst seine Schwangerschaft anfangs verheimlicht und das Gerücht in die Welt setzt, von einem Migranten vergewaltigt worden zu sein, und einer bauernschlauen Alten, die mit ihrer Urenkelin über alles und nichts debattiert. Weiter erhält der Leser Hinweise auf andere, teils ausländerfeindliche, teils opportunistische wie rachsüchtige Kleinbürger. Kann man denn nichts machen gegen die Störung des gewohnten Zusammenlebens? Solche besorgten Fragen hört man öfter. 

Die Probleme nehmen zu. Der Bürgermeister macht sich für die Flüchtlinge stark und verweist auf ihre prekäre Situation. Der Grund für den Anschlag auf sein Haus – ein Ziegelstein wird durch ein Fenster geworfen – liegt für ihn auf der Hand: Es handelt sich um eine ausländerfeindliche Tat. Die Ermittlungen verlaufen jedoch im Sand.

Auch sonst plätschert die Erzählung dahin. Klischee reiht sich an Klischee, Wahrheit an Halbwahrheit. Da scheint es fast zwingend, daß irgendwann auf das Alte Seglerheim ein Attentat verübt wird. Unbekannte setzen mit Molotowcocktails die Einrichtung in Brand. Während die einen Neonazis verdächtigen, verhehlen andere Bewohner nicht ihre klammheimliche Freude über das Fanal und vermuten einen von den Bewohnern verursachten Unfall. Die Lage spitzt sich zu und wird nur dadurch entschärft, daß bald die Nachricht vom Umzug der Fremden die Runde macht. Die Unterkunft wird geschlossen.

Immerhin möchte der Autor nicht nur platt gutmenschlich erscheinen. Dem Eindruck der Schwarzweißmalerei will er ebenso entgegenwirken wie der Leere, die man bei der Lektüre mehrfach verspürt. Eine Messerstecherei unter den Migranten sorgt für Aufregung. Der Streit ist eskaliert. Verletzte werden verarztet. Der Täter kommt in Gewahrsam. Den Opfern dämmert, daß er wohl bald wieder auf freiem Fuß ist. Mit einer neuen Gewalttat ist zu rechnen.

Die „Welt von gestern“ wird parodistisch verklärt

Der Ausblick für das Städtchen, wie ihn Hein am Ende seines Romans schildert, ist düster. Die gesprächige Urgroßmutter wird zum Pflegefall. Die minderjährige Schwangere, deren Falschaussage durchaus toxische Wirkung zeigt, bringt ihr Kind zur Welt, kehrt aber nicht in ihren Heimatort zurück. Mit der Auflösung des Flüchtlingsheims verlieren auch die Angestellten ihren Arbeitsplatz und finden – wenn überhaupt – nur mit Mühe eine neue Beschäftigung. Ein Einwohner, Achim Mühlenbusch, macht aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Dieses Guldenberg geht mir auf die Nerven. Ich habe die Kleinstadt satt und will mal das Leben genießen.“ Es reiche ihm, am Anfang in seiner neuen Umgebung nur zu kellnern. Immerhin trinkt er vor seiner Abreise noch „auf unser geliebtes Bad Guldenberg“. Die „Welt von gestern“ wird so parodistisch verklärt.

Heins Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 2015/16 ist als bestenfalls zwiespältig zu bewerten. Einerseits gelingt es ihm, die neue Zeitrechnung, die seither eingeläutet ist, mit einer adäquaten Sprache zu fassen und ihr so einen literarischen Ort zuzuweisen; andererseits sind die Dürftigkeit dieses Unternehmens und die Durchsichtigkeit der Motive offenkundig. Es ist zu wünschen, daß der 77jährige an frühere Erfolge anknüpfen kann. Noch bleibt Zeit dazu.

Christoph Hein: Guldenberg. Roman, Suhrkamp, Berlin 2021, gebunden, 285 Seiten, 23 Euro