© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Die Glut wird weitergegeben
Konservativer Geist in unmöglichen Zeiten: Eine Erinnerung an „Die Tempel von Paestum“
Thorsten Hinz

Für Thomas Mann war die Sache eindeutig. Bücher, die im Dritten Reich erschienen waren, verdienten keinen Respekt. „Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.“ So heißt es in dem berühmten Absagebrief, den er 1945 aus dem kalifornischen Exil an den Schriftstellerkollegen Walter von Molo sandte. Als zeitbedingte Affekthandlung sei dem Dichter seine unsinnige Aussage nachgesehen.

Der Band Nr. 170 der Insel-Bücherei, „Die Tempel von Paestum“, weist im Impressum 1944 als Erscheinungsjahr aus. Er kam kriegsbedingt als Broschur-Ausgabe heraus, der Einband verzichtete auf die üppige Ornamentik, die ein Markenzeichen dieser Reihe ist. Es war ein Wunder, daß der Band überhaupt erschien, denn Leipzig, damals die deutsche Bücherstadt, wo auch der Insel-Verlag seinen Sitz hatte, war am 4. Dezember 1943 von einem massiven Bombenangriff heimgesucht worden. Auch das Verlagsviertel wurde schwer getroffen, 50 Millionen Bücher verbrannten. Und mit dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 sollte sich entscheiden, daß die Niederlage ein Untergang von totalerer und radikalerer Qualität sein würde, als man sich das überhaupt vorstellen konnte.

In dieser Zeit, in der nichts mehr ging und im Großen kein vernünftiges Handeln mehr möglich war, begaben der klassische Archäologe Ludwig Curtius (1874–1954) und der Kunsthistoriker und Fotograf Carl Lamb (1905–1968) sich zweieinhalb Jahrtausende zurück und veröffentlichten ein schmales, mit 42 Schwarzweißfotos bebildertes Büchlein über die griechische Tempelanlage in Paestum in der italienischen Provinz Kampanien.

Das Ensemble besteht aus den imposanten Überresten dreier dorischer Tempel: der Basilika, auch Hera-Tempel genannt, dem Poseidon- sowie dem Athena-Tempel, der früher Ceres, der Göttin des Ackerbaus, zugerechnet wurde. Das eindrücklichste Merkmal des dorischen Baustils sind die gedrungenen Säulen, deren Schaft unmittelbar an den Sockel anschließt.

Gottfried Benn erwartete ein neues Zeitalter von antiker Größe

Curtius – ehemals Dekan der Philosophischen Fakultät, seit 1928 wissenschaftlicher Direktor des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches in Rom, 1937 von den Nationalsozialisten in den vorzeitigen Ruhestand geschickt – gibt in seinem Geleitwort einen historischen, kultur- und religionsgeschichtlichen Abriß. Die Bauten bildeten den Mittelpunkt der griechischen Stadt Poseidonia in der Bucht von Salerno. Hierbei handelte es sich um eine Gründung von Kolonisten, von Auswanderern aus dem „schwelgerischen Sybaris“, das 510 v. Chr. gegen Kroton unterlag und zerstört wurde. Poseidonia sei eine lebendige, reiche Stadt in einer fruchtbaren Gegend gewesen. Die Tempel müsse man sich als heilige Bezirke vorstellen, mit religiösen Festen und Opfern, mit Prozessionen, hymnischen Gesängen, Weihegaben, mit Weihwasserbecken und Bronzestatuen. Auf dreistufigem Unterbau über die Wohnungen der Sterblichen erhoben, seien sie als Götterwohnungen kenntlich. Dem Athena-Tempel sei etwas „Thronendes“ eigen, die Basilika vermittle einen „Alpdruck“, und vor dem Poseidon-Tempel verspüre man den „Schauer vor dem Erhabenen“.

Der Altertumsforscher und Begründer der Klassischen Archäologie Johann Joachim Winckelmann, der Paestum im Jahr 1758 als vielleicht erster Deutscher besucht hatte, nannte die Tempel „das Erstaunendste und Liebste, das Ehrwürdigste aus dem ganzen Altertum“. Goethe hingegen zeigte sich 1787 über das gedrungene Format der dorischen Säulen irritiert. Curtius wiederum, der Italien lebenslang verbunden blieb und in Rom starb, schwingt sich in seiner Beschreibung in poetische Höhen auf: „Dieses ungeheure Stück Griechentum ist eingebettet in die heroische Landschaft, deren Meer aufglänzt durch die Säulen des Poseidontempels, deren Ginster das einsame Ufer erfüllt mit der melancholischen Klage des Leopardischen Gedichts und deren Gebirge so unberührt anschwillt, als könnte gleich eine Horde Zentauren aus ihm herabsprengen.“ Der Poseidontempel sei „männlich, so dorisch männlich“, daß der „Begriff der Zeit“ vor ihm verwese. 

Vordergründig erinnert das letzte Zitat an Gottfried Benns Essay „Dorische Welt“, das – rhetorisch bis heute eindrucksvolle – Dokument des kurzzeitigen geistigen Schwächeanfalls, den Benn 1933 erlitt. Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus hatte er die Erwartung eines neuen Zeitalters von antiker Größe verbunden: „Dorische Welt war die größte griechische Sittlichkeit, antike Sittlichkeit, also siegende Ordnung und von Göttern stammende Macht“, wohingegen die Gegenwart nur noch die „feminine Fortdeutung von Machtbeständen“ sei. Aus der Verbindung des dionysischen Rausches und kraftvoller Wehrhaftigkeit sollte eine „progressive Anthropologie“ entstehen und einen nach griechischem Vorbild geformten heroischen Menschen erschaffen: „Zwischen Rausch und Kunst muß Sparta treten, Apollo, die große züchtende Kraft.“ In der Summe feierte Benn hier eine Lebensform, der er zehn Jahre später die Abwesenheit jedweder „moralischen und ästhetischen Verfeinerung“ attestieren wird.

Während der Lyriker in donnerndes Pathos verfiel, wurde der Wissenschaftler zum Lyriker. Curtius verwies nämlich auf „die Zartheit dieses scheinbar nur massiven Systems“ der dorischen Tempel, die „beinahe unfaßbar“ sei. Die wuchtigen Gebälke beschrieben „allerzarteste, sich nach oben wölbende Bogenlinien“, sogenannte Kurvaturen, womit die Baumeister der Gefahr begegneten, daß die langgestreckten Horizontalen für das Auge in der Mitte einsinken. Vor allem der Poseidontempel hatte es ihm angetan. Er sei „menschlich groß“, sein Anblick mache den Betrachter „frei, stolz, aufrecht und zugleich demütig, schweigend und bescheiden“. 

Die Schwarz-Weiß-Fotos liefern den Beweis. Weil sie für das Auge ungewohnt sind, schärfen sie das Auge des Betrachters und lenken seinen Blick auf das Wesentliche. Carl Lamb war als Fotograf und Kunstwissenschaftler der Wirkung des Licht auf der Spur. Der gebürtige Würzburger hatte sich schon im Kindesalter für die Fotografie begeistert. Er promovierte bei Wilhelm Pinder über bayerische Architektur und kam 1938 mit einem mehrjährigen Forschungsstipendium nach Rom. Bei dieser Gelegenheit nahm er 1940 und 1941 auch die Fotos von Paestum auf. In den zwei letzten Kriegsjahren fotografierte er kriegsgefährdete Werke barocker Deckenmalerei in Süddeutschland mit eigens dafür entwickelten Farbdiafilmen. Lambs Fotografien dienten nach dem Krieg als wichtige Grundlage für die Restaurierung zerstörter Bauwerke, so auch der Würzburger Residenz.

NS-Widerstand in einem höheren Sinne

Seine Fotos zeigen die Bauten in der Totale, im Detail, von innen – was Touristen heute verwehrt ist – und außen. Die Aufnahmen entstanden zu verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, bei Sonnenauf- und -untergang. Im beigefügten Aufsatz „Die Tempel von Paestum in ihrem Verhältnis zum Licht“ spekuliert er, ob im Poseidontempel der Lichtstrahl zur Tagundnachtgleiche durch die Türöffnung auf die Götterstatue gefallen sei und die Transzendenz sich gleichsam materialisiert habe. „Bedeutete das Gegenüber von Gestirn und Bildsäule gleichsam einen Austausch von Strahlungskraft?“ 

Curtius und Lamb versagten sich jede Anspielung auf die chaotische Gegenwart. Sie beschränkten sich strikt auf ihr Metier, auf den wissenschaftlichen Gegenstand. Alles andere hätte bedeutet, sich sinnlos am Unabwendbaren abzuarbeiten, Energie zu verschwenden und zusätzliche Gefahren auf sich zu ziehen. Stattdessen erforschten, archivierten, vergegenwärtigten sie eine Kulturleistung von Ewigkeitswert. Eine Haltung, die äußerste Disziplin verlangte, denn niemand konnte von dem Zerstörungswerk, das sich in der realen Welt abspielte, unbeeindruckt bleiben. 

Ihr Insel-Band bedeutet keinen Widerstand im unmittelbaren, jedoch im höheren Sinne. Er eröffnete einen geistigen Raum, in dem der Nationalsozialismus nicht vorkommt, aus dem heraus er aber vom Leser in den Blick genommen werden konnte. So steht Curtius’ kathartische Deutung der Tempelbauten, in denen er den Geist der griechischen Tragödie ausgedrückt fand, konträr zur Ästhetik der pseudo-antikisierenden Speer-Bauten, die auf Überwältigung und Einschüchterung angelegt waren.

Je tiefgründiger und universeller ein Text oder überhaupt ein Werk ist, desto größer und beständiger ist sein Aktualisierungspotential. Die Glut wird weitergegeben, indes die äußere Welt zu Asche zerfällt. Das ist die äußerste Möglichkeit eines konservativen oder rechten Geistes in unmöglichen Zeiten.

Auch die Blüte Poseidonias, schreibt Curtius, habe nur kurz gewährt, weil die Stadt eine Kolonie von Halbbarbaren aufnehmen mußte, die aus dem Gebirge in die fruchtbare Ebene drängten. „Bald ragten die Tempel in eine fremde, verwandelte Welt.“ Laut einer Überlieferung, die einige Generationen später schriftlich fixiert wurde, feierten die Nachfahren der Poseidonier, die ihre Sprache und Kultur unter den Barbaren verloren hatten, noch ein einziges griechisches Fest: „An diesem kamen sie zusammen, gedachten ihrer alten Namen und ihrer alten Gebräuche, klagten und weinten zusammen und gingen dann wieder nach Hause. Das geschah“, schreibt Curtius, „wohl vor dem Poseidontempel.“ Von diesem heißt es beinahe hoffnungsfroh bei Lamb: „Angesichts des festlich aufglänzenden Tempels empfinden wir die besondere Weihe des ersten Lichtstrahls in der heiligen Frühe.“ 

Nichts in diesem schmalen Band atmet Blut und Schande. Er enthält eine humane und luzide Flaschenpost, verfaßt in finsterer Zeit für Gegenwärtige und Künftige. 1957 und 1962 erlebte er im Insel-Verlag Leipzig, nunmehr DDR, zwei weitere Auflagen. Seine Lektüre beeindruckt auch heute.