© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Afghanistan bleibt der Friedhof der Imperien
Nur ein weiteres Grab
Bruno Bandulet

Am 1. April 2009 war auf Phoenix eine jener seltenen Gesprächsrunden zu besichtigen, bei denen geopolitischer Sachverstand und Realitätsverweigerung der politischen Klasse unversöhnlich aufeinanderprallen. Letztere war vertreten durch Gert Weisskirchen, den damaligen außenpolitischen Sprecher der SPD. Thema war der Krieg in Afghanistan. Erst im Januar hatte Barack Obama das Amt von George W. Bush übernommen, und er war dabei, mehr Geld und mehr Truppen zu mobilisieren, um die Wende im Krieg zu erzwingen. 

Als der SPD-Mann die offizielle Linie Berlins verteidigte, mit atemberaubender Naivität über die Verhältnisse am Hindukusch schwadronierte und das seltsame Konzept einer bewaffneten Entwicklungshilfe, eine deutsche Spezialität, anzupreisen versuchte, platzte Peter Scholl-Latour der Kragen. „Die lügen sich im Bundestag die Taschen voll!“, raunzte er und warnte: „Mehr Truppe schafft mehr Feindschaft.“ Die Deutschen seien einseitig informiert, schon nach fünf Minuten schalte er ab, wenn Parlamentsdebatten zu Afghanistan übertragen würden. „Den Krieg kann man nicht gewinnen“, prophezeite der Publizist abermals, der den Deutschen die Welt zu erklären verstand wie kein anderer.

Ein Gesprächspartner in dieser Sendung, der Scholl-Latour sekundierte, war Afghane: Khazan Gul, der sich für den Bau von Schulen in seiner Heimat engagierte. Gul lieferte die bis heute gültige Erklärung für den Ausgang des Dramas: „Die Afghanen sind nicht gewohnt, Herren zu haben.“ Sie hatten im 19. Jahrhundert der britischen Weltmacht blutige Niederlagen bereitet und sich nie wirklich kolonisieren lassen. Sie hatten im 20. Jahrhundert die hart kämpfende Rote Armee vertrieben. Und sie würden sich nie mit den amerikanischen Besatzern abfinden, denen ihre Kultur fremd blieb, die nachts Türen eintraten und damit die „Hausehre“ verletzten. Afghanistan, der Friedhof der Imperien.

Dabei verlief die erste Phase des Krieges offensichtlich erfolgreich. Die Vereinigten Staaten marschierten im Oktober 2001 ein, belegten das karge Land mit lasergesteuerten Raketen und Bombenteppichen aus den Schächten der B-52. Sie schickten Spezialkommandos der Green Berets, die zusammen mit lokalen Milizen die Taliban innerhalb von zwei Monaten ausschalteten. Die Operation kostete vier US-Soldaten, drei davon durch eigenen Beschuß, und einen CIA-Agenten das Leben. Die Kosten beliefen sich auf 3,8 Milliarden Dollar. In diesem Sommer, als nach zwei Jahrzehnten die finanzielle Bilanz gezogen wurde, war die Rede von mindestens 1.000 Milliarden allein für die Amerikaner.

Der Schein des amerikanischen Sieges trog. Die Taliban hatten nicht kapituliert. Sie waren nur in der Bevölkerung untergetaucht, hatten sich nach Pakistan abgesetzt, wo sie sich neu formierten, neu finanzierten und frische Kämpfer rekrutierten. Spätestens 2006 waren sie auf dem Kriegsschauplatz zurück, mit etwa 10.000 Mann. Das waren die Zwischenjahre, in denen die Amerikaner es versäumten, sinnvoll in die Regierungsarmee zu investieren und den Respekt und die Herzen der Landbevölkerung zu gewinnen. Sie blieben Besatzer und wurden als solche wahrgenommen. Und Deutschland? Nie hatte Berlin den geringsten Einfluß auf die Afghanistan-Strategie. „Gemeinsam rein, gemeinsam raus“ blieb ein Euphemismus. In Wahrheit ging Deutschland rein und wieder raus als Vasall der amerikanischen Schutzmacht.

Jetzt treten andere Akteure des „Great Game“, des Großen Spiels, in den Vordergrund: China, Rußland – und Afghanistans großer Nachbar Pakistan, dessen Schlüsselrolle zurückreicht bis in die Zeit der sowjetischen Besatzung in den achtziger Jahren. Damals waren es Pakistan und insbesondere sein mächtiger Geheimdienst ISI, die mit amerikanischem und saudischem Geld die Mujahedin, die Vorläufer der Taliban, bewaffneten und trainierten, die in den Wüsten und Bergen Afghanistans die Sowjets in einen jahrelangen Kleinkrieg verwickelten. Ebenso hatte der ISI die Hände im Spiel beim Aufstieg der Taliban nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, die – nicht anders als die U.S.-Army – den Krieg verloren, weil sie ihn nicht gewinnen konnten, während es den Partisanen genügte, nicht zu verlieren, um am Ende zu gewinnen. 

Kein auswärtiger Akteur ist so verstrickt in die innerafghanischen Verhältnisse wie Pakistan. Dort machen die im Nordwesten lebenden Paschtunen 13,5 Prozent der Bevölkerung aus, in Afghanistan stellen sie noch vor den Tadschiken die größte Volksgruppe. Die afghanisch-pakistanische Grenze im Nordwesten bestand immer nur auf dem Papier, sie wird bis heute von den Paschtunen ignoriert, Peschawar auf der pakistanischen Seite fungierte während des Krieges als Hochburg und Rückzugsort der Taliban. 

Pakistans Beziehungen zu den USA werden ambivalent bleiben. Nachdem Washington nach dem 11. September 2001 die zuvor gegen die Sowjets aufgebotenen Gottes­krieger zum Feind erklärt hatte, rief der amerikanische Außenminister Colin Powell Präsident Pervez Musharraf an und drohte ihm: „Sie sind entweder mit uns oder gegen uns.“ Powells Stellvertreter Richard Armitage soll ihm sogar gedroht haben, Pakistan in die Steinzeit zurückzubomben. Die Pakistani fügten sich und führten verlustreiche Militäroperationen gegen die Taliban im Nordwesten, bei denen 50.000 Zivilisten getötet wurden – und gleichzeitig ließen sie die Kontakte nach Kabul und zu den Taliban nie abreißen.

Die Regierung in Islamabad dürfte zu den ersten gehören, die das neue Regime in Kabul diplomatisch anerkennen. Dabei wird sie sich mit Peking abstimmen. Für China ist Pakistan als Teil des Projekts Neue Seidenstraße unverzichtbar. 2015 unterzeichneten beide Länder den Vertrag über einen „Wirtschaftlichen Korridor“, der mit seinen Straßen, Eisenbahnlinien und Ölleitungen die chinesische Region Xinjiang mit dem pakistanischen Hafen Gwadar am Indischen Ozean verbinden wird. Mit Gwadar, wo Peking bereits Milliarden investiert hat, verschafft sich China eine gewisse Alternative zur Straße von Malakka, einem Nadelöhr für chinesische Rohstoffimporte, das im Fall eines Konfliktes mit den USA jederzeit blockiert werden kann.

Die Führung in Peking hat ebenso wie der Kreml schon vor dem Machtwechsel in Kabul diplomatische Kontakte zu den Taliban aufgenommen. Ohne blauäugig zu sein setzen sie darauf, daß sich dort ein relativ gemäßigtes Regime etabliert, das darauf verzichtet, Islamismus zu exportieren und die chinesischen Uiguren oder die Moslems im zentral-asiatischen russischen Einflußbereich aufzuwiegeln. Es war kein Zufall, daß Peking und Moskau es unterlassen haben, ihre Botschaft in Kabul zu evakuieren oder zu schließen. Die beiden Großmächte haben offenbar die Lage vor Ort realistischer eingeschätzt als Washington, nicht zu reden von Berlin. Sie haben den Rückhalt in Rechnung gestellt, den die Islamisten bei den Paschtunen, weniger bei den Tadschiken und im urbanen Milieu, genießen.

In den westlichen Medien wird schon über die Rohstoffe gemutmaßt, die sich China sichern will. Tatsächlich erwähnt ein Papier des Pentagon von 2010 massive Lithium-Vorkommen und spricht von Afghanistan als „Saudi-Arabien des Lithiums“. Zudem wurden Kupfer, Eisenerz und Seltene Erden entdeckt. 2008 sicherte sich ein chinesisches Konsortium ein großes Kupfervorkommen, das zu gegenwärtigen Preisen mehr als 100 Milliarden US-Dollar wert sein könnte. Das Bergwerk muß aber noch entwickelt werden. Überhaupt hat China bisher weder in die Infrastruktur des Landes noch in die Bodenschätze nennenswerte Summen investiert. Ein Ölprojekt im Norden wurde, weil unrentabel, aufgegeben, und ein indisches Unternehmen stieg aus, nachdem sich eine Eisenerz-Lagerstätte als wenig ergiebig erwiesen hatte.

So verlockend es für die chinesischen Strategen sein muß, sich eine von Pakistan über Afghanistan bis zum Iran erstreckende Einflußzone zu sichern, so werden sie doch vermeiden wollen, sich zu überlasten. Afghanistan ist ein bitterarmes Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von gerade einmal 20 Milliarden Dollar, das sich selbst nicht ernähren kann und noch lange auf Hilfsgelder angewiesen sein wird – schätzungsweise auf zehn Milliarden Dollar im Jahr. Das Geld kam bisher aus dem Westen und versickerte großenteils in der Korruption. Die afghanischen Devisenreserven von sieben Milliarden Dollar, die bei der amerikanischen Notenbank in New York liegen, wurden gesperrt, was den Amerikanern die Möglichkeit gibt, Bedingungen zu stellen. Werden sie sich dem Kriegsgegner – ähnlich wie nach dem demütigenden Abzug aus Vietnam – langfristig wieder annähern? Jedenfalls werden die Afghanen nicht die alten Herren gegen neue, auch nicht gegen chinesische, austauschen wollen. Die Diplomaten der Gotteskrieger werden die strategische Bedeutung des Landes auszuspielen versuchen. Ende Juli machten sie ihre Aufwartung in Peking. Mit den schiitischen Machthabern in Teheran müssen sie sich erst noch arrangieren. 

Zu konstatieren bleibt, daß der Zusammenbruch der amerikanischen Marionettenregierung in Kabul eine weltpolitische Zäsur markiert, daß der Westen sein Gesicht verloren hat, daß sich die Idee einer liberalen Weltordnung als Chimäre herausgestellt hat, daß sich archaische Kulturen nicht umerziehen lassen, daß die Amerikaner am Hindukusch ein machtpolitisches Vakuum hinterlassen, daß die so offenkundig gewordene Schwäche der Demokratien die Autokratien China und Rußland stärken wird. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua sprach schon von einem „Wendepunkt im Niedergang der amerikanischen Hegemonie“. Und die chinesische Global Times nannte die USA „ein unzuverlässiges Land, das seine Verbündeten im Stich läßt, wenn es kritisch wird“.

Die 40 Millionen Afghanen, 70 Prozent von ihnen jünger als 25 Jahre, blicken zurück auf einen vier Jahrzehnte andauernde Geschichte der Gewalt. Sie waren Objekt und Leidtragende fremder Interessen seit 1979, als die Rote Armee einmarschierte. Ihnen ist zu wünschen, daß Platos Satz, wonach nur die Toten das Ende des Krieges gesehen haben, seine Gültigkeit verliert.






Dr. Bruno Bandulet, Jahrgang 1942, war Chef vom Dienst bei der Tageszeitung „Die Welt“ und ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“ (erscheint im Magazin „eigentümlich frei“). Er schrieb mehrere Bücher, darunter zuletzt 2018

„Dexit“ (Kopp) über einen Euro-Ausstieg Deutschlands

Foto: US-Fallschirmjäger bereiten sich 2009 vor, einen CH-47-Chinook-Hubschrauber in der afghanischen Provinz Paktika zu beladen: Die Kosten des Krieges summieren sich auf Zehntausende Menschenleben und über eine Billion Dollar