© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Frevel am schöpferischen Geist
Hermann Parzinger über Kulturzerstörungen in der Historie
Werner Lehfeldt

Das neue Buch von Hermann Parzingers ist einem Gegenstand gewidmet, den der Autor als „intentionelle Kulturzerstörung“ bezeichnet und in geschichtlicher Perspektive abhandelt, wobei er einen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart schlägt. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern es werden „in ihrer Wirkkraft bedeutende und exemplarisch ausgewählte Fälle von Ikonoklasmus“ beschrieben, die in ihrer Gesamtheit eine eindrückliche Vorstellung davon vermitteln, wie im Laufe von mehr als zwei Jahrtausenden immer wieder ungezählte Hervorbringungen menschlicher Kultur vernichtet oder zumindest schwer beschädigt worden sind. Je weiter der Leser bei der Lektüre vorankommt, desto düsterer wird das Bild, das sich ergibt, denn immer deutlicher wird, „daß die Geschichte der intentionellen Zerstörungen wohl noch nicht zu Ende geschrieben sein dürfte“. 

Eindringlich begründet wird diese Aussicht im elften Kapitel, in dem am Beispiel der Sprengung der gigantischen Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan im März 2001 gezeigt wird, daß und wie der islamistische Ikonoklasmus in der Gegenwart angekommen ist. Liest man die Beschreibung des „Kreuzzugs“ der Taliban gegen die buddhistische Kultur Afghanistans, stellt sich unabweislich die Frage, wie es mit diesem „Kreuzzug“ wohl weitergehen wird, nach dem Gotteskrieger in Afghanistaan die Macht wieder zurückerobern konnten. Die 2015 erfolgten Sprengungen antiker Relikte im syrischen Palmyra durch IS-Islamisten sind noch nicht vergesssen. Nicht unterdrücken läßt sich auch die Frage, welche Folgen der sich stetig verstärkende Islamismus in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft für die europäische Kultur zeitigen mag.

In den zehn Kapiteln, die der Beschreibung des islamistischen Ikonoklasmus vorausgehen, schildert der Autor ebenso viele ausgewählte Fälle intentioneller Kulturzerstörung. Hierbei kommt es ihm stets darauf an, nicht nur die unterschiedlichen Formen solcher Zerstörungen darzustellen, sondern auch die Motive zu verdeutlichen, die ikonoklastischen Zerstörungsaktionen zugrunde lagen, so etwa Namenstilgung, Grabschändungen, Zerstörung von Statuen und Bildern als Ausdruck der damnatio memoriae; Zerstörung von Kunstwerken und Bücherverbrennungen zur Auslöschung von Erinnerung und Umschreibung der Geschichte; Einzug und Enteignung von Tempel- und Kirchengütern und kirchliche Bilderstürme aus religiösen Motiven, die sehr oft vermengt waren mit sozialen, ethnischen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen. 

Den Anfang macht das Altertum, in dem bereits nahezu sämtliche Formen von Kulturzerstörung nachgewiesen sind. So wird die Zerstörung ganzer Städte einschließlich ihrer Kunstwerke geschildert, wie etwa bei der Verwüstung Korinths durch die Römer im Jahr 146 v. Chr. oder beim Untergang Karthagos, sowie die Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Über die Umbrüche in der Spätantike und den byzantinischen Bilderstreit im 8. und 9. Jahrhundert führt der Autor in das Spätmittelalter und die Präludien der Reformation, dann in die frühe Neuzeit und die Reformation und schließlich zur Französischen Revolution, deren kulturzerstörerische Aktionen zum erstenmal nicht von einer religiösen, sondern einer säkularen Kulturideologie getragen wurden. 

Ideologisch motivierte Vernichtung von Kulturgut im 20. Jahrhundert

Besonders bedrückend ist die Schilderung des Zeitalters kolonialer Eroberungen, in deren Verlauf die einheimischen Kulturen in Süd- und Mittel-amerika in einem Ausmaß zerstört wurden, die den Autor von einem Genozid sprechen lassen, die im Fall der von Großbritannien und Frankreich geführten Opiumkriege im 19. Jahrhundert sowie der Niederschlagung des Boxeraufstands zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die der chinesischen Kultur unvorstellbare Verluste zufügte.

Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die belgische Stadt Löwen von deutschen Truppen weitgehend niedergebrannt, wobei fast die gesamte berühmte Universitätsbibliothek mit Hunderten wertvollster Handschriften und Inkunabeln sowie mehr als 300.000 Bücher vernichtet wurden – ein gezielter Angriff auf die Kultur und das kulturelle Erbe der belgischen Bevölkerung. 

Die Oktoberrevolution und der Stalinismus hatten nicht nur die Zerstörung von Kirchen, Klöstern und von Emblemen der Zarenzeit zur Folge, sondern führten auch zu einer neuen Art des Umgangs mit Kunst- und Kulturgütern der Zarenzeit. Statt solche Güter zu zerstören, wurden diese gewinnbringend ins Ausland verkauft, wodurch dringend benötigte Devisen beschafft wurden. Diese Kulturzerstörung durch Veräußerung führte zu unvorstellbaren Plünderungen von Kirchen, Klöstern und Museen.

Der Nationalsozialismus führte dann einen radikalen Vernichtungsfeldzug gegen die künstlerische Moderne, beraubte die Juden nicht nur ihres Immobilien- und Geldvermögens, sondern auch der sich in ihrem Besitz befindlichen Kulturwerke. Im Zweiten Weltkrieg kam es zu einem erbarmungslosen Kampf gegen die Kultur Polens und der eroberten Gebiete der Sowjetunion, in dessen Verlauf ein Kulturraub betrieben wurde, der ein bislang in der Menschheitsgeschichte nicht dagewesenes Ausmaß annahm. 

Die maoistische „Große Proletarische Kulturrevolution“, in der die traditionelle chinesische Kultur zum Feind erklärt wurde, hatte zur Folge, daß das kulturelle Erbe massiv zerstört wurde. Auch die tibetische Kultur und Religion wurden erbarmungslos bekämpft. Ganz ähnlich wie das Mao-Regime gingen die Roten Khmer während ihrer Schreckensherrschaft 1975 bis 1979 vor, wobei kulturelle Denkmäler allerdings nicht nur zerstört, sondern oft ins Ausland verkauft wurden.

Eine unmittelbare Vorstellung von Kulturzerstörung vermittelten in Europa die Jugoslawienkriege mit ihrer systematischen, vor allem von serbischer Seite betriebenen Vernichtung von Kultur und kulturellen Denkmälern, die sich immer auch gegen Menschen richtete.

Zwar sind im 20. Jahrhundert mehrere internationale Vereinbarungen zustande gekommen, die auf den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten abzielen, doch wenn man sich vor Augen hält, daß „Kulturzerstörung und Ikonoklasmus unter gewissen Konstellationen allgemein menschliches Verlangen zu sein scheinen“, überwiegt die Skepsis gegenüber der Wirksamkeit solcher Vereinbarungen. Eine Skepsis, die sich leider schon allzu oft als berechtigt erwiesen hat. 

Hermann Parzinger: Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart. Verlag C.H.Beck, München 2021, gebunden, 368 Seiten, 29,95 Euro