© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Im Bannkreis des Verschweigens
Ein Sammelband über die unterdrückte Geschichte und die verdrängten Schicksale ostdeutscher Vertriebener in der DDR
Gernot Facius

Es durfte sie offiziell nicht geben: Heimatvertriebene waren aus dem SED-Vokabular verbannt. Mit der DDR-Gründung 1949 und dem Görlitzer Abkommen über „die friedliche Oder-Neiße-Grenze“ gab es nur noch „Umsiedler“. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (Jahrgang 1943), ein Sozialdemokrat, erinnerte sich: „Die Unterdrückung des Schicksals und der Erfahrung von Flucht und Vertreibung ging so weit, daß es einer Kraftanstrengung bedurfte, um zu verhindern, daß Wrocław und nicht Breslau als mein Geburtsort in den Ausweis eingetragen wurde.“ Ein 224-Seiten-Bändchen, herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft e. V. (Berlin), erinnert an die systematische Unterdrückung der Erinnerung an die alte Heimat durch das Ulbricht-Honecker-Regime. 

Dieses Schicksal der Ost- und Sudetendeutschen im ehemaligen kommunistischen „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ ist bislang wenig erforscht. Dabei war noch 1961 jeder fünfte DDR-Bewohner ein Vertriebener. Aber diese Landsleute durften sich nicht in größeren Gruppen begegnen. Eine Selbstorganisation vergleichbar dem Bund der Vertriebenen (BdV)im Westen war verboten, an Landsmannschaften war erst recht nicht zu denken. Das Thema Vertreibung in Literatur und Film der DDR existierte in einem Graubereich, der über Andeutungen nicht hinausreichte. Christa Wolfs Roman „Kindheitsmuster“, 1976 erschienen, gilt heute als der erste relevante Versuch, das Geschehen zumindest vorsichtig zur Sprache zu bringen.

Trotz erheblicher persönlicher Risiken schafften es allerdings bis mindestens Ende der sechziger Jahre Vertriebene – offenbar auf sudetendeutsche Initiative hin –, sich heimlich in den Zoos von Halle und Leipzig zu versammeln – mit Hunderten, teilweise sogar bis zu 2.000 Teilnehmern. Auch im konfessionellen Milieu konnte sich ein gewisses Eigenleben halten. „1950 jedenfalls war die Bindung an die Kirche unter Flüchtlingen und Vertriebenen stärker als beim Durchschnitt der Bevölkerung“, schreiben Gundula Bavendamm, Direktorin der Berliner Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, und Carl Bethke, Kurator der Stiftung. Mutige Autoren suchten trotz aller Schikanen durch Behörden und Partei mit Tabus und dem SED-Postulat von der „totalen Assimilierung der Umsiedler“ zu brechen. So etwa Ursula Höntsch-Harendt (1934–2000). Am Beispiel einer Familie Hönow aus Schlesien hielt sie in ihrem Roman „Wir Flüchtlingskinder“ den persönlichen Schmerz und den Verlust der Heimat fest. „Niemand von den Hönows hat die Aussiedlung vergessen, weil kein Mensch vergißt, woher er gekommen ist.“ Ein politisch wichtiger Satz. Die Verfasserin handelte nach dem Motto: Tatsachen müssen wahrhaftig benannt werden. „Was Ursula Höntsch 1985 ihre Romanfiguren aussprechen ließ, stand in keinem DDR-Geschichtsbuch. Ihr Buch enthielt mehr historische Fakten und Wahrheiten als in der wissenschaftlichen historischen Literatur bis 1989 nachzulesen war“, urteilte Heike Amos vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. 

In den achtziger Jahren, so Amos, konnte beobachtet werden, daß in der DDR-Öffentlichkeit das Tabuthema Flucht und „Umsiedlung“ immer mehr zur Sprache kam. Dies betraf zum einen die individuellen Schrecknisse der Vertreibungserfahrung und zum anderen das Trauma des tiefgreifenden Konflikts zwischen den „Einheimischen“ und den Fremden. „Die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und frühere deutsche Ostgebiete schien vorsichtig und ansatzweise ein legitimer Teil der DDR-Geschichte zu werden. Inhaltsschwere Worte wie ‘Flüchtlinge’ und ‘Vertreibung’ (…) wurden allmählich aus dem Bannkreis des Verschweigens entlassen.“ Das SED-Tabuisierungsgebot galt hingegen weiter für jede laut ausgesprochene Überlegung oder Diskussion über Sinn und Rechtmäßigkeit der Vertreibungen. Und eine Problematisierung von Grenzfragen – zum Beispiel zwischen Polen und der UdSSR oder zwischen Polen und der DDR – blieb bis 1989 absolutes Tabu. 

Das Buch, mehr ein Sammelbändchen, beschreibt nicht nur Vertriebenenschicksale in der DDR, es wirft auch einen Blick auf die Folgen der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei: Die demografischen, sozialen und die Eigentumsverhältnisse wurden auf Dauer „radikal“ verändert. Matěj Spurný vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Prager Karls-Universität erinnert an das böse Beneš-Wort vom „Ausliquidieren“ der Sudetendeutschen. Spurný kommt zu dem Schluß: Die „chirurgische“ Lösung des Nationalitätenproblems in der Tschechoslowakei der unmittelbaren Nachkriegszeit zeige eine gewisse, wenn auch indirekte Fortsetzung in der Teilung des Staates nach 1989 oder auch in der Angst vor den Migrationsbewegungen der Gegenwart. Und der Autor scheut sich nicht, auf die „verheerenden Folgen“ der Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien hinzuweisen. Die deutsche Minderheit als eine traditionelle und kontinuierlich existierende Gemeinschaft, die über Jahrhunderte hinweg die Kultur des Landes mitprägte, stehe vor dem Untergang. Spurnýs Fazit: „Die Deutschen wurden nach dem Krieg enteignet, aber, rückblickend betrachtet, wurden auch wir, als Gesellschaft und als Land, nicht reicher. Wir haben alle viel verloren.“  

Hartmut Koschyk, Vincent Regente (Hrsg.): Vertriebene in SBZ und DDR. Be.bra Wissenschaft Verlag, Berlin 2021, broschiert, 224 Seiten, 24 Euro

Foto: Ferdinand Katzer aus Dresden erinnert an sein Elternhaus im östböhmischen Wichstadtl: Schicksale mit Tabu belegt