© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Im Zweifel journalistisch
Der langjährige „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust hat seine Autobiographie vorgelegt
Ronald Gläser

Juli 1993. Im mecklenburgischen Bad Kleinen läuft ein Polizeieinsatz gegen versprengte RAF-Angehörige aus dem Ruder. Am Ende liegen zwei Tote auf dem Bahnhof: der Polizist Michael Newrzella und der Terrorist Wolfgang Grams. Mehrere Medien berichteten, Grams sei von der Polizei hingerichtet worden. Die Berichterstattung löste ein kleines politisches Erdbeben aus. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl und Innenminister Rudolf Seiters verloren ihr Amt. Dabei hat es sich, so die Staatsanwaltschaft, um einen Selbstmord von Grams gehandelt. Doch wen interessiert schon die Wahrheit, wenn sich eine Geschichte über Polizeiwillkür basteln läßt?

Der Spiegel war damals vorn mit dabei. Der diensthabende Co-Chefredakteur wollte die Titelgeschichte statt „Der Todesschuß“ sogar „Die Hinrichtung“ nennen. Er konnte von einem Redakteur gestoppt werden. Rudolf Augstein soll, so Aust, später gesagt haben, daß er die beiden damaligen Chefredakteure gefeuert hätte, wenn er die ganze Wahrheit gekannt hätte. Die unbewiesene Geschichte von Hans Leyendecker war eine der größten Falschnachrichten in der Geschichte des Spiegel. Alexander von Stahl verlangte im Zuge der Relotius-Affäre die Aufarbeitung. Stefan Austs Schilderungen dazu sind eine kleine Sensation, weil sie beweisen, daß der Spiegel beinahe noch tiefer gefallen wäre. 

Die Ära Aust bei dem Hamburger Nachrichtenmagazin hingegen, die kurz nach dieser Pleite begann, war anders. Nichts an Stefan Aust ist normal. Er war ein Ausnahmetalent im deutschen Journalismus, und das fängt schon mit seiner Familiengeschichte an. Sein Großvater hatte eine kleine Flotte von Schiffen auf der Elbe. Aber die Stadt Hamburg machte mit einer eigenen Reederei privaten Anbietern den Garaus. Sein Vater, so beschreibt Aust es in seiner Biographie „Zeitreise“, war in der Zwischenkriegszeit Cowboy in Kanada. Er kehrte zurück nach Deutschland und mußte in den Krieg ziehen. Stefan Aust wurde erst danach geboren: 1946 kam er in Stade bei Hamburg zur Welt.

Der junge Stefan Aust begann seine Arbeit als Journalist ganz linksaußen bei Konkret – damals eine Monatsschrift im Boulevardstil. Dort lernte er auch Ulrike Meinhof kennen. Zu den wichtigsten „Beobachtungen am Rande der Geschichte“, wie Aust es selbst nennt, gehören seine Kontakte in das RAF-Sympathisantenmilieu der sechziger Jahre. Sein später verfilmtes Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ wurde mehrfach neu aufgelegt.

Sein Verhältnis zum linken Rand im allgemeinen und den 68ern im speziellen beschreibt er jetzt so: „Ich war skeptisch gegenüber den Regierenden, aber auch gegenüber deren Gegnern.“ Er habe, so Aust, immer Abstand zu den Aktivisten der 68er-Bewegung gehalten und sich nicht mit ihnen gemein gemacht. Und weiter: „Und auch heute und in den vergangenen Jahren, als manche der kommunistischen Sektierer unter grüner Regenbogenfahne Minister wurden, konnte ich sie nur begrenzt ernst nehmen. Ich kannte sie noch aus einer Zeit, als sie für Lenin oder Mao durchs Feuer gegangen wären – wenigstens theoretisch.“ 

Überraschende Theorien über Barschels Tod und Anis Amri

Nachdem er jahrelang für Panorama gearbeitet hatte, gründete Aust 1988 Spiegel TV und drückte damit dem bis dahin reizlos-linken Magazin für die kommenden zwanzig Jahre seinen Stempel auf. Er verordnete dem Spiegel dann endgültig ab 1994 als Chefredakteur einen politisch gemäßigteren Kurs. So konnte das Hamburger Magazin die neue Konkurrenz in Form des Münchener Focus ausbremsen und den Stern deplatzieren. In den Jahren unter Austs Leitung gewann der Spiegel gegen den Trend sogar an Abonnenten. Der Erfolg gab ihm recht. Seit seinem Rauswurf 2008 arbeitet der Verlag jedoch mit großem Engagement daran, das interessantere Image aus der Aust-Ära wieder loszuwerden, was mit der Affäre des wegen seiner politisch „passenden“, aber zusammengelogenen Reportagen in der Hamburger Speicherstadt gefeierten Claas Relotius 2018 einen fatalen Höhepunkt erlebte.

Aust liefert eine Reihe interessanter Theorien zu mehreren Geheimdienstoperationen wie dem Mord an Uwe Barschel („südafrikanische Agenten“), der Attentatsserie des NSU oder dem Anschlag von Anis Amri. Die rechtsradikale Terrorzelle hält er für einen Geheimbund, der Morde begehen ließ, um sich die Loyalität der Kameraden zu sichern. Anis Amri hingegen sei eine Quelle gewesen, die die Dienste nicht abschalten wollten – mit den bekannten bitteren Folgen.

Das Buch ist keine Abrechnung. Der Autor feilt natürlich an seinem eigenen Denkmal. Am Chefredakteur, der ganz nebenbei das „Sommermärchen“ von 2006 erfunden hat. Die meisten Personen, die er erwähnt, kommen gut weg. Der Leser erfährt dadurch viel Positives über Henryk M. Broder („mein alter Freund“), den er seit den gemeinsamen Tagen Anfang der siebziger Jahre bei den schlüpfrigen St. Pauli Nachrichten kennt, der Spiegel-TV-Moderatorin Maria Gresz, Georg Mascolo und natürlich Rudolf Augstein. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Ein Mitarbeiter des Spiegel, der nur Verlagsinsidern bekannt sein dürfte, hat Aust das Leben schwergemacht und schneidet entsprechend schlecht ab. Und Hans Leyendecker, von dessen journalistischen Fähigkeiten Aust nicht allzu viel zu halten scheint, wenngleich er seine Kritik anstandshalber in hanseatischer Weise in nettere Worte („irgendwie auch tragisch“) faßt.

Stefan Aust liegt auch manchmal daneben. Noch am 9. November 1989 schrieb er, typisch westdeutscher Bohemien, über die Wiedervereinigung: „Daß an diesem Abend auch der Weg in die Einheit begonnen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.“ Was für eine Fehleinschätzung! Auch wird die rechtsradikale Gefahr wie vom restlichen Mainstream von Aust als monströser dargestellt, als sie wirklich ist. Seine Kritik an Merkels Versagen in der Migrationskrise von 2015 fällt überraschend schwach aus. Dafür liegt er um so richtiger, wenn er an kritischen Punkten mit dem Mainstream und den Machthabern ins Gericht geht, wenn er gegen weichgespülte Medienhäuser oder Stasi-Spitzel anschreibt. Auch für Windräder und andere Auswüchse der Klimaideologie hat Aust partout nichts übrig: „Unterlegt mit dem Computerzahlenwerk der Klimagurus von Potsdam nahm und nimmt der drohende Weltuntergang durch das menschengemachte Kohlendioxid seinen verhängnisvollen Lauf – ich war da immer skeptisch.“ So etwas wird nicht nur dem Spiegel-Leser im Zeitalter von „Fridays for Future“ leider nirgendwo im Mainstream mehr serviert. So etwas gibt es nur von Stefan Aust – und der ist eben außergewöhnlich.

Stefan Aust: Zeitreise. Die Autobiografie. Piper Verlag, München 2021,  gebunden, 656 Seiten, 26 Euro

Foto: Stefan Aust 2019: „Ich war skeptisch gegenüber den Regierenden, aber auch gegenüber deren Gegnern“