© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/21 / 27. August 2021

Absage an das Tätervolkdogma
Konrad Löw und Felix Dirsch zitieren jüdische Zeitzeugen
Hermann Rössler

Der 1922 geborene Berliner Jude Isaak Behar notiert nach Kriegsende den Besuch eines deutschen Bekannten, eines Herrn Behrens. Das ehemalige NSDAP-Mitglied hatte ihm im Dritten Reich geholfen, im Berliner Untergrund zu überleben. Nach „einigem Hin und Her“ fragte dieser ihn nun, ob er „eventuell“ vor der Entnazifizierungskommission für ihn aussagen könne. Behar: „Ich war erschüttert: Behrens hatte mir das Leben gerettet! Und nun fiel es ihm so schwer, mich um diesen kleinen Gefallen zu bitten.“ 

In „Die Stimmen der Opfer“ haben die Politikwissenschaftler Konrad Löw und Felix Dirsch Originalzitate von über 250 zumeist jüdischen Zeitzeugen gesammelt, die sich an das Verhalten ihrer deutschen Nachbarn, Freunde und Mitbürger in den Jahren 1933 bis 1945 erinnern. Die niedergeschriebenen Erfahrungen zeichnen ein anderes Bild als das des deutschen Tätervolks, das vor jedem Unrecht an den Juden gemeinschaftlich die Augen verschloß. Die Geschichten erzählen vom zwischenmenschlichen Alltag, wie ihn Juden erlebten. 

Löw verdeutlicht einleitend, daß die Zitate nicht zu dem Zweck zusammengetragen worden seien, um „irgend jemanden zu be- oder entlasten“. Ziel sei es vielmehr, „ein fundiertes, möglichst umfassendes und facettenreiches Bild der Wirklichkeit“ wiederzugeben. Dennoch zieht der Verleger Konrad Badenheuer das Fazit: „Ein heftiger, zur rechtlichen Zurücksetzung oder gar Verfolgung von Juden tendierender Antisemitismus war in Deutschland auch in den schlimmsten Phasen der Nazizeit Sache einer kleinen Minderheit.“ Den ersten und umfangreicheren Teil des Buches haben die Autoren jüdischen Zeitzeugen vorbehalten. Neben Prominenten wie Hannah Arendt, Albert Einstein oder Gerhard Löwenthal kommen auch weniger bekannte und neu entdeckte Stimmen zu Wort. 

Ein Großteil der Aufzeichnungen stammt aus Tagebüchern. Der Leser erfährt Biographisches über denjenigen, der die Aussage trifft. Nach einem Zitat finden sich geschichtliche Einordnungen und Kommentare der Autoren. Im zweiten Teil folgen nichtjüdische NS-Gegner, „deren von Anfang an ungetrübte Sicht auf die Deutschen und Hitlers Judenpolitik bemerkenswert ist“. Einen weiteren Einblick in den Umgang jüdischer und nichtjüdischer Deutscher bieten Statistiken über „Mischehen“ oder auch beliebte Vornamen im Dritten Reich. Es ergibt sich, daß die Scheidungsrate in solchen Ehen gering war. Löw und Dirsch kommen zu dem Schluß, daß in dem durch ihre Nachforschungen entstandenen „gewaltigen Chor“ diejenigen „mit der Lupe“ gesucht werden müßten, „die von einer kollektiven Schuld ‘der’Deutschen sprechen“.

Konrad Löw, Felix Dirsch: Die Stimmen der Opfer. Zitatlexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik. Verlag Inspiration Un Limited, Berlin 2020, gebunden, 391 Seiten, 15,90 Euro